cash.ch: Weltweit sind die Börsen mehrheitlich positiv in das neue Jahr gestartet. Wie beurteilen Sie die Lage am Aktienmarkt?

Daniel Hartmann: Das wichtigste Ereignis im Dezember war die EZB-Sitzung, als Präsidentin Christine Lagarde aggressiver als erwartet aufgetreten ist. Sie hat gleich mehrere Leitzinserhöhungen in Höhe von 50 Basispunkten in den Raum gestellt. Dies trieb einerseits die Anleiherenditen nach oben und bescherte andererseits den Aktienmärkten einen kleinen Dämpfer zum Jahresende.

Warum sind die Marktteilnehmer jetzt wieder optimistischer?

Die neuesten Inflationsdaten, die gerade aus Europa eintreffen, liegen alle unter den Erwartungen. Dies hat die Lage wieder beruhigt und die Renditen zurückkommen lassen. Am Markt herrscht die Meinung vor, dass die Notenbanken die Leitzinsen wohl doch nicht so scharf anheben werden. Und auch das konjunkturelle Szenario, dass ein Soft Landing im Bereich des Möglichen liegt, beflügelt die Aktienmärkte.

Teilen Sie den Marktkonsens, dass ein Soft Landing realistisch ist?

Nein. Uns steht viel mehr noch ein böses Erwachen bevor, was das wirtschaftliche Umfeld betrifft. Ich bin der Meinung, dass wir sowohl in Europa wie auch den USA dieses Jahr eine ausgewachsene Rezession bekommen werden. 

Was bedeutet auf einer Zeitachse eine ausgewachsene Rezession?

Es gibt im Minimum drei Quartale mit rückläufiger Wirtschaftsleistung. Das BIP der Eurozone und der USA würde in diesem Zuge um mindestens ein Prozent schrumpfen. 

Mit dieser Haltung stehen Sie aktuell noch ziemlich allein da. Wie erklären Sie sich das?

Es wird dieses Mal länger dauern, bevor das Ausmass der Rezession vollkommen sichtbar ist. Denn die Rezession wird nicht wie in den vergangenen Jahren durch einen Schock vom Immobilienmarkt oder durch eine Pandemie ausgelöst. Es ist vielmehr eine typische Rezession wie in den 80er und 90er Jahren, wo die Notenbanken einen Abschwung auslösten, der sich allmählich selbst verstärkte und in einer klassischen Abwärtsspirale mündete.

Sie sprechen den Zinsschock an, der im Kampf gegen die Inflation in Kauf genommen wird…

An vorderster Stelle ist es die US-Notenbank Fed, die das erste Mal seit den 80er Jahren die Leitzinsen in diesem Tempo angehoben hat. Als Konsequenz sind die Anleiherenditen in den USA in kürzester Zeit um 4 Prozentpunkte angestiegen, was den Zinsschock illustriert. Eine solch gewaltige Restriktion der Geldpolitik kann nicht spurlos an der Wirtschaft vorbeigehen. Man sieht die Auswirkungen des Zinsschocks bereits an den Immobilienmärkten. Die langfristigen Hypothekarzinsen haben sich in den USA innerhalb kürzester Zeit von 3 auf über 7 Prozent mehr als verdoppelt. Die Folge sind rückläufige Bauinvestitionen und Immobilienpreise. Ähnliches sieht man zum Teil auch in Europa. In Deutschland sind beispielsweise die Bauaufträge eingebrochen. Und die Entwicklung ist noch nicht zu Ende.  

Wo wirkt sich der Zinsschock ebenfalls aus?

Es ist nur eine Frage der Zeit, bis sich der Zinsschock auch bei Investitionen in Maschinen, Anlagen oder Software auswirkt und ein allgemeiner Investitionseinbruch Tatsache wird. Ebenso haben Unternehmen bereits angekündigt, dass sie Sparprogramme in vielen Bereichen umsetzen werden. Da braut sich etwas zusammen. Zum Zinsanstieg, mit dem sich die Unternehmen konfrontiert sehen, kommen weitere Faktoren hinzu. Die Löhne ziehen an und die Rohstoffpreise sind zumindest noch hoch. 

Am Markt wird schon einige Zeit darüber gesprochen, dass die Gewinnerwartungen zu hoch sind. Muss die Korrektur noch deutlich stärker ausfallen?

Unsere eigenen Frühindikatoren zeigen, dass der Druck auf die Gewinnmarge selten so hoch war wie jetzt gerade. Es zeichnet sich eine deutliche Gewinnkompression bei den Unternehmen ab. Dadurch werden die Investitionen zusätzlich unter Druck kommen. Diese Entwicklung löst normalerweise eine richtige Rezession aus, die auch den Arbeitsmarkt früher oder später in Mitleidenschaft zieht.

Die Notenbanken haben zu spät auf die Inflation reagiert. Überschiessen sie bei der Bekämpfung der Inflation?

Genau. Man hätte bereits Ende 2021 die Zinsen anheben müssen. Die Fed hat bis ins Frühjahr und die EZB bis in die Mitte des vergangenen Jahres mit dem ersten Schritt gewartet. Nachdem man damals zu spät reagiert hat, läuft man jetzt Gefahr, die Glaubwürdigkeit in der Inflationsbekämpfung zu verlieren und reagiert zu stark in die andere Richtung.

Was müsste man anders machen?

Eine vorausschauende Geldpolitik würde bereits jetzt erkennen, dass der Inflationsdruck nachlässt und die Wirtschaft in den nächsten Monaten in schwieriges Fahrwasser gerät. Dies ignoriert man aber bewusst und orientiert sich stattdessen an nachlaufenden Indikatoren.

Man handelt aufgrund vergangener Daten?

Ja. Die Fed möchte beispielsweise über mehrere Monate hinweg rückläufige Inflationsraten und sich verschlechternde Arbeitsmarktdaten sehen. Das sind jedoch zwei Wirtschaftsindikatoren, die dem Konjunkturzyklus eindeutig nachlaufen. Dieses Vorgehen hat zur Folge, dass man den Abschwung noch verstärkt. Die Fed räumt diesen Umstand auch mehr oder weniger ein, indem sie die Gefahr für eine Rezession als hoch betrachtet.

Der Konsument hat bis jetzt die Konjunktur in den USA und Europa noch gestützt. Wie schätzen Sie dessen Zustand in den nächsten Monaten ein?

Die Pandemie-Nachholeffekte dürften jetzt auslaufen. Die Inflation ist zwar in diesem Jahr rückläufig, aber sie wird in der Eurozone immer noch durchschnittlich bei rund 5 Prozent liegen. Das Lohnwachstum dürfte damit kaum Schritt halten. Der Konsum kann 2023 somit nur wachsen, wenn die Sparquote weiter rückläufig ist. Dieser Entwicklung sind aber schlussendlich auch Grenzen gesetzt.

Was bedeutet Ihr konjunkturelles und geldpolitisches Szenario für den Aktienmarkt?

Jetzt freut man sich noch darüber, dass die Inflation zurückkommt und das geopolitische Umfeld weniger angespannt ist. Die Hoffnung, dass man mit einem blauen Auge davonkommt, wird sich jedoch zunehmend als Trugschluss erweisen. Spätestens im Frühjahr sollte man sehen, dass die Rezession stärker ausfällt als man gedacht hat. Dann wird es nochmals bei den Gewinnen starke Revisionen nach unten geben und die Aktienkurse werden nochmals zurückgehen. Ich rechne mit einer Korrektur von 20 bis 25 Prozent von den aktuellen Niveaus aus.

Zyklische Branchen wird es wohl noch stärker treffen?

Wer weiterhin am Aktienmarkt investiert sein möchte, sollte unverändert defensiv ausgerichtet sein. Auch wenn zyklische Aktien aktuell günstig bewertet erscheinen, kann man bei einem deutlichen Konjunktureinbruch hier nicht positiv gestimmt sein.

Doch immerhin die Zinsen könnten 2023 zurückkommen. Wo sehen Sie diesbezüglich Chancen?

Aufgrund der sich anbahnenden Rezession rechnen wir mit einem deutlichen Rückgang der Anleiherenditen. Die Notenbanken können nicht so aggressiv sein, wie sie es derzeit an die Wand malen. Der Markt preist aktuell für die Eurozone ein Leitzinsniveau von bis zu 3,5 Prozent im Sommer 2023 ein. Doch so weit wird es aus unserer Sicht nicht kommen. Es werden Leitzinserhöhungen ausgepreist werden und damit die Renditen fallen. Es müsste ein Jahr für Staatsanleihen werden, da durch den Renditerückgang die Kurse steigen.

Von sinkenden Anleiherenditen dürften auch Wachstumstitel profitieren?

2023 bleibt wegen der Rezession eine Ausnahme. Die Notenbanken sind mit Blick auf die kommenden Jahre gezwungen, die Leitzinsen über die nächsten Zyklen anzuheben. Und auch das Inflationsumfeld wird wohl schwierig bleiben, was die Notenbanken vielmehr dazu zwingt, die Leitzinsen weiter anzuheben. Der langfristige Ausblick ist für alle Anlageklassen eher kompliziert. Die Zeit expansiver Notenbanken und sinkender Renditen dürfte vorbei sein.

Sie rechnen langfristig mit einer höheren Inflation und höheren Zinsen?

Genau. Und das bedeutet eben, dass das Umfeld für die Aktienmärkte schwierig bleibt. Gerade die Wachstumstitel werden in diesem Umfeld unter Druck bleiben. Die Zeit, wo die Aktienmärkte jährlich 10 Prozent und mehr Rendite gemacht haben, ist vorbei.

Was empfehlen Sie Anlegerinnen und Anlegern, die trotzdem am Aktienmarkt investieren wollen?

Man kann nicht mehr nur einen ETF auf den MSCI World kaufen und eine hohe Rendite erzielen, sondern muss selektiver vorgehen. Aktives Management und damit Stock Picking bleibt das Gebot der Stunde. Unternehmen mit einem guten Geschäftsmodell und einer hohen Preissetzungsmacht bleiben in der Favoritenrolle. Insbesondere Infrastruktur-Aktien sollten in einem solchen Umfeld gut abschneiden. Neben den Big Playern bei den erneuerbaren Energien wie Iberdrola, Enel und EDP sind hier auch einige kleinere Perlen wie Grenergy oder Voltalia zu nennen.

Was bedeutet der konjunkturelle Ausblick für die Währungspaare Dollar/Franken und Euro/Franken?

Wenn es in den USA eine Rezession gibt und die Fed darauf mit Leitzinssenkungen im zweiten Halbjahr reagiert, dann wird dies den Dollar schwächen. Eine ausgewachsene globale Rezession würde hingegen den Dollar wegen seiner Rolle als Fluchthafen eher stützen. Ich sehe nur kurzfristig eine Dollarschwäche. Der Euro hingegen profitiert aktuell von der aggressiveren Haltung der EZB und dem Rückgang der geopolitischen Verunsicherung. Mittelfristig bleibt der Euro aber eine schwierige Währung, da die EZB immer wieder auf die südeuropäischen Länder Rücksicht nehmen muss. Dies wird auch in den nächsten Jahren immer wieder der Fall sein. Man muss daher befürchten, dass sich die übergeordnete Aufwertung des Frankens weiter fortsetzen wird.

Was sind die grössten Marktrisiken?

Es besteht die Gefahr, dass die Rezession noch stärker ausfällt. In einem solchen Fall könnten auch Finanzmarktrisiken zum Tragen kommen. Wenn sich der Zinsschock weiter ausbreitet und gleichzeitig eine globale Rezession eintritt, kann dies beispielsweise für die Immobilienmärkte recht gefährlich werden. Die globale Rezession könnte mithin in Kombination mit den gestiegenen Zinsen und höheren Inflationsraten Finanzmarktrisiken provozieren, von denen wir heute noch gar nicht wissen, wo sie dann auftauchen. In den USA zeichnet sich zudem eine politische Blockadehaltung im Kongress ab, so dass das Thema Schuldengrenze wieder akut werden könnte. Auch auf eine Rezession könnte die USA in einem solchen Umfeld nicht fiskalpolitisch reagieren.

Stellen der Konflikt zwischen Taiwan und China oder der Ukraine-Krieg keine Risiken dar?

Taiwan ist ein schlummerndes Risiko, aber eine reale Gefahr wohl erst in ein paar Jahren. China ist aktuell noch mit anderen Problemen beschäftigt. Hinsichtlich des Ukraine-Kriegs ist wohl die Instabilität in Russland die grösste Gefahr. Man kann nicht davon ausgehen, dass eine Machtablösung von Putin ohne Chaos vonstattengehen würde.

Gibt es auch potenzielle Lichtblicke?

Es kann durchaus positive Überraschungen geben. Wir können noch nicht genau abschätzen, wies sich die Lage in China weiter entwickelt. Der Aufschwung könnte wegen der Abkehr von Null-Covid stärker sein, als derzeit prognostiziert. Ich glaube aber nicht, dass sich China als Retter für die Weltwirtschaft entpuppen wird.

Ausserhalb von China sehen Sie keinen Retter für die Weltwirtschaft?

Nein. Der Geldpolitik sind die Hände gebunden, der Fiskalpolitik langsam auch.

Die Staatsverschuldung ist auch ein schlummerndes Risiko...

Die Japaner könnten 'dank' der kommenden Rezession nochmals daran vorbeischlittern, dass sie die Geldpolitik straffen müssen. Aber in den nächsten Jahren könnte auch in Japan ein grösseres Inflationsproblem entstehen, so dass die Notenbank reagieren muss. Wenn im hochverschuldeten Japan die Zinsen richtig ansteigen, könnte der Staat sehr stark unter Druck geraten. Die Refinanzierung der Schulden wird dann extrem schwierig.

Dr. Daniel Hartmann ist seit 2017 Chefökonom beim Asset Manager Bantleon in Zürich und in dieser Funktion für die Finanzmarktprognosen bei Anliehen und Aktien sowie die Analyse der globalen Konjunktur und Geldpolitik verantwortlich. Zuvor war er viele Jahre Senior Analyst Economic Research bei Bantleon.

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