Eigen- und Fremdbild stimmen oft nicht überein. Selten aber klaffen sie so weit auseinander wie bei der deutschen Wirtschafts- und Währungspolitik. Während Deutschland glaubt, in Europa mit gutem Beispiel voranzugehen und auch global zu den konstruktiven Kräften zu zählen, wird es international immer mehr als Problemverursacher gesehen.

Just zu dem Zeitpunkt, zu dem Deutschland sich und sein Verantwortungsbewusstsein für die grossen Probleme der Welt auf dem G20-Gipfel glanzvoll präsentieren wollte, erinnern der Internationale Währungsfonds (IWF) und das Wochenmagazin «The Economist» an einen seit Jahren schwelenden Streitpunkt: Der Economist nennt es auf seinem Titelblatt sogar das «Deutsche Problem» und schliesst, dass der deutsche Sparüberschuss die Weltwirtschaft gefährde. Und der IWF prognostiziert, dass die Normalisierung der EZB-Geldpolitik in weite Ferne rücke, wenn Löhne und Preise in Deutschland weiter nur so zögerlich ansteigen. Der Fonds empfiehlt in seinem am Freitag veröffentlichten Länderbericht sogar, dass die Bundesregierung einmal die Modellansätze ihrer Steuerschätzungen überprüft. Diese hätten in den vergangenen Jahren systematisch die tatsächlichen Steuereinnahmen unterschätzt und so zu unnötig niedriger Nachfrage beigetragen. Autsch. So werden Ohrfeigen verteilt.

Was läuft falsch in Deutschland, dass es trotz selbst empfundener Tugendhaftigkeit international so stark kritisiert wird? Einfach gesagt, es fehlt schlicht und einfach der Wechselkurs, der inländische und ausländische Nachfrage effektiver steuert. Der IWF schätzt, dass der reale handelsgewichtete Wechselkurs für Deutschland 10-20% zu niedrig sei. Dies führt seit Jahren zu immensen Leistungsbilanzüberschüssen von rund 8% des Bruttoinlandsproduktes. Per Definition sind die Überschüsse des einen Landes die Defizite eines anderen. Das gleiche gilt auf der Finanzierungsseite. Der hohe deutsche Sparüberschuss hält die Zinsen in Europa extrem niedrig, da nur so irgendwo in der Währungsunion Kreditnachfrage nach diesem Kapital entsteht.

Wettbewerbsfähigkeit und Sparsamkeit mögen in Deutschland als Tugend empfunden werden. Wenn jedoch alle Länder versuchen würden, solche Spar- und Leistungsbilanzüberschüsse zu erzielen, dann wäre die globale Nachfrage so niedrig, dass die Welt in einer Dauerrezession verharrte und die Zinsen noch tiefer fielen. Wenn Finanzminister Schäuble wie jüngst in einem Zeit-Interview sagt, dass Luther die schwarze Null vermutlich gefallen hätte, spricht er aus, was viele Deutsche denken: Sparsamkeit ist vorbildlich, angesichts der demographischen Entwicklung nachhaltig und sollte am besten mit positiven Zinsen belohnt werden. Makroökonomisch gibt es allerdings kaum immer richtige Verhaltensweisen, so wie es keine für alle Wetterlagen richtige Kleidung gibt. Die EU-Kommission beobachtet daher makroökonomische Ungleichgewichte, zu denen Leistungsbilanzüberschüsse genauso wie Leistungsbilanzdefizite zählen. Ausserhalb der Währungsunion würde ein flexibler Wechselkurs exzessive Leistungsbilanzungleichgewichte korrigieren. Innerhalb ist das schwieriger, aber nicht unmöglich.

Des Mittels einer fiskalischen Abwertung hat sich Deutschland bedient als es noch als kranker Mann Europas galt. Damals wurden die Lohnnebenkosten gesenkt und die Konsumsteuern erhöht. Jetzt wäre das Gegenteil angemessen. Höhere Brutto- und Nettolöhne würden helfen. Ein niedrigerer Haushaltsüberschuss könnte die Nachfrage zusätzlich erhöhen, genauso wie eine weitere Liberalisierung des Dienstleistungssektors. Der IWF schlägt zudem vor, dass ein höheres Pensionsalter die Notwendigkeit zur privaten Ersparnisbildung reduzierte und so die Nachfrage stärken würde. Insgesamt wäre es für die Weltwirtschaft hilfreich, wenn Deutschland bei makroökonomischen Fragen die gleiche Kooperations- und Koordinierungsbereitschaft zeigen würde, wie beim Klimaschutz und der Flüchtlingskrise. Beginnen könnte es mit der Einsicht, dass individuell gut gemeinte Verhaltensweisen, makroökonomisch und global nicht immer zu den optimalen Ergebnissen führen.