Wer reist und dabei Zeitungen liest und fernsieht, stellt schnell fest, dass sich die Menschheit nicht sehr viel weiter entwickelt hat. Wenn wir uns bedroht fühlen, fallen wir in die uralten Muster zurück: Wir schalten den Kopf aus und bringen Opfer dar, um die Götter gnädig zu stimmen. Die Schweiz bereitet zu diesem Zweck die Unternehmenssteuerreform 3 vor, Frankreich hat die letzten Linken aus der Regierung verjagt und plant drastische Budgetkürzungen und Italien streitet sich um die Abschaffung des Articolo 18 des Arbeitsgesetzes, der langjährige Mitarbeiter vor „ungerechter“ Entlassung schützt.  

Der Gott, dem wir diese Opfer bringen, heisst KAPITALMARKT, und die Religion, die uns alle verbindet, heisst Standortwettbewerb. Die wichtigsten Glaubenssätze sind in etwa die: Der Hauptzweck der Wirtschaft besteht darin, Jobs zu schaffen. Das geht nur mit Investitionen und über die entscheidet allein der KAPITALMARKT. Er schwebt wie eine tausende von Milliarden Dollar schwere Wolke über der Weltwirtschaft und lässt es dort Investitionen regnen, wo der höchste Profit lockt. In Klartext: Dort wo die Arbeit flexibel und billig ist, wo der Staat zwar keine Steuern verlangt aber eine exzellente Infrastruktur zur Verfügung stellt. Und nicht zuletzt müssen auch die Zinsen tief sein, was angeblich tiefe oder zumindest sinkende Staatsschulden voraussetzt.

Diese Sicht der Wirtschaft und die daraus abgeleitete Politik der „Strukturreformen“ und der „Wettbewerbsfähigkeit“ wird durch keine anerkannte ökonomische Theorie gestützt und sie ist ein groteskes Zerrbild der wirtschaftlichen Realität. Dazu ein paar Anmerkungen:

Zwar gibt es den Standortwettbewerb tatsächlich, doch seine Bedeutung für den Arbeitsmarkt wird weit überschätzt. Jobs entstehen auch heute in erster Linie durch die eigenen Nachfrage, nicht durch Exporterfolge. Das gilt sogar für klassische Exportländer wie die Schweiz.

Seit 1992, bzw. seit diese Statistik geführt wird, sind hier per Saldo rund 230'000 neue Jobs (auf Vollzeit umgerechnet) entstanden. Davon wurden gut 260'000 durch die lokale Nachfrage nach Gesundheit, Sozialdienste, Bildung und Verwaltung geschaffen. In allen anderen Branchen ist die Beschäftigung der Saldo um gut 30'000 gesunken. Auch die typischen Exportbranchen - Banken, Pharma, Uhren und Maschinen – leisteten insgesamt keinen positiven Beitrag zur Beschäftigung.

Fatal ist auch die Zwangsvorstellung, Vollbeschäftigung mit immer mehr Wachstum herstellen zu wollen. Unsere Wirtschaft ist nicht dazu da, zu wachsen, oder Jobs zu schaffen , sondern unsere Bedürfnisse zu decken. Der Wettbewerb zwingt sie zudem, dies möglichst effizient zu tun. Da aber bisher die Effizienz, sprich die Produktivität immer schneller zugenommen hat als die Nachfrage, nimmt die Arbeit ab. Das wird auch in Zukunft so sein, denn unsere Bedürfnisse sind endlich. Der Tag hat nun einmal nur 24 Stunden und auch der Konsum braucht Zeit.

Dennoch versucht die Wirtschaftspolitik seit Jahrzehnten, die „Vollbeschäftigung“, verstanden als 42-Stundenwoche, aufrecht zu erhalten. Mit welchem Erfolg, sehen wir im Zeitraffer: 1968 blickte Europa auf rund 20 Jahre rasanten Wachstums zurück. Man sprach von einem „Wirtschaftswunder“, doch die damalige Jugend, die 68er oder Hippies, entdeckten an ihren Eltern bedrohliche Anzeichen der Wohlstandsverdummung uns suchten nach einfacheren und befriedigenderen Lebensformen.

Inzwischen hat sich das BIP pro Kopf bereits wieder mehr als verdoppelt. Doch weil sich die Produktivität in etwa verdreifacht hat, ist die Arbeitszeit pro Beschäftigen im westeuropäischen Schnitt um fast einen Drittel gesunken. Das aktuelle Krise kommt nicht von einem Mangel an BIP, sondern davon, dass die geschrumpfte Arbeitszeit sehr ungleich verteilt worden ist. Es ist ein Kampf um die Arbeit entbrannt und dies wiederum hat zu einer zunehmend einseitigen Verteilung der Löhne (gemessen am Stundenlohn) geführt.

Diese Verteilung sieht – grob vereinfacht - so aus: Etwa ein Zehntel arbeitet noch mehr als 1968 und verdient pro Stunde in etwa das fünffache von damals. Ein weiterer Viertel arbeitet und verdienen gemäss der gestiegenen Produktivität etwa dreimal so viel wie 1968.  Jede Dritte (es sind vor allem Frauen betroffen) arbeitet bloss teilzeit und verdienen oft noch nicht einmal das Existenzminimum. Die restlichen rund 15 Prozent schliesslich sind arbeitslos oder ausgesteuert.

Es ist völlig klar, dass eine solche Wirtschaft nur so lange nicht völlig zusammenklappt, als die das obere Drittel seine Überschüsse per Kredit an das untere Drittel transferiert. Doch weil diese Unterschicht nicht kreditfähig ist, muss der Staat die entsprechenden Schulden übernehmen. Inzwischen sind wir an einem Punkt angelangt, an dem auch die (meisten) Staaten nicht mehr kreditfähig sind und deshalb ihre Schulden den Zentralbanken weitergeben müssen.

Es ist verständlich, dass dies dem KAPITALMARKT (sprich den oberen 10 Prozent) nicht gefällt. Aber es müsste auch klar sein, dass man dieses Dilemma nicht dadurch auflösen kann, indem der Staat keine Schulden mehr macht, bzw. keine Kaufkraft mehr an das untere Drittel transferiert.

Ohne diesen Transfer geht es nicht. Es gibt zwei Möglicheiten, ihn zu finanzieren. Die erste die Methode Draghi, bzw. der Transfer durch Endloskredit: Danach kauft die Europäische Zentralbank laufend Staatsschulden auf. Der Kapitalmarkt – die oberen zehn Prozent – haben dann ein Guthaben, dass zwar faktisch wertlos ist, das sie aber problemlos unter einander austauschen können, weil es ja durch EZB garantiert ist.

Die zweite und weitaus bessere Lösung ist der Transfer über die Löhne und über die Arbeitszeit. Jede und jeder soll in etwa soviel arbeiten und verdienen können, wie es zur Deckung seiner Bedürfnisse nötig ist. Die Idee ist übrigens nicht neu. Nach diesem Muster ist damals das Wirtschaftswunder gestrickt worden.