Wirtschaftspolitik in einer globalisierten Welt ist eine hoch komplexe Sache. Wunderbarerweise blicken meine Journalistenkollegen dennoch voll durch. Sie wissen genau was los ist und was getan werden müsste.  Zudem gehen sie offenbar davon aus, dass jeder intelligente Mensch ebenso von der Notwendigkeit der „nötigen“ Strukturreformen überzeugt ist wie sie. Deshalb müssen sie bloss noch Noten verteilen. Vor allem die Auslandkorrespondenten scheinen diese Art von Artikeln aus dem Stehsatz zu ziehen und bloss noch die Namen auswechseln. Zur Zeit glänzen Renzi und Valls als beliebtesten Reformhelden. Die Schurkenrolle der ewiggestrigen Reformverhinderer wird weiterhin von den Gewerkschaften und von Marine le Pen besetzt.  Sie wollen – im Gegensatz zu den aufgeklärten Journalisten – noch immer nicht begreifen, dass wir uns den Sozialstaat in einer globalisierten Welt nicht mehr leisten können.

Dieses „Wunder“ der Schwarmintelligenz ist erklärbar: Es liegt daran, dass die Ökonomen die komplexe Wirklichkeit mit einem ganz engen, rein betriebswirtschaftlichen Modell abbilden, in dem Länder einfach grosse Unternehmen sind.  Diese zehntausendfach wiederholte Erzählung geht so: „Problem Nr. 1 ist die Arbeitslosigkeit. Beschäftigung kommt vom Wachstum, dieses wiederum von den Investitionen und über sie entscheidet der Kapitalmarkt. Er investiert dort, wo Löhne, Steuern und Zinsen tief, die Arbeitskräfte flexibel und die Gewinnaussichten entsprechend hoch sind. Diesen Zustand nennt man „Wettbewerbsfähigkeit“ und der weg dorthin heisst „Strukturreform.“ Ende der Story.

Schweizer Exportindustrie schafft kaum Jobs

Diese „Export-Story“ hält sich deshalb so lange, weil einiges an ihr wahr ist: Der Kapitalmarkt ist in der Tat mächtig und ja, Multis verlagern ab und zu Produktionen in Länder mit noch tieferen Löhnen und Steuern. Doch erstens stimmen die Grössenordnungen nicht. Ein Beispiel: Selbst in der exportorientierten Schweiz mit ihren rekordhohen Überschüssen sind in den Exportindustrie seit 1991 per Saldo keine Jobs geschaffen worden. Zudem ist sie unlogisch. Es können nicht alle gleichzeitig versuchen, Jobs durch Exportfähigkeit, sprich Sparsamkeit, zu schaffen, denn der Export der einen sind die Binnennachfrage der andern.

Wie weit diese „Standorttheorie“ von der Realität entfernt ist, zeigt sich auch, wenn ökonomisch geschulte Fach-Kollegen wie etwa Martin Wolf in der Financial Times oder Markus Meier-Diem im Tagi die Lage analysieren. Sie wissen zwar, dass die Rekapitalisierung der Banken nicht viel bringt, sind aber völlig hilflos, wenn es um wirtschaftspolitische Konsequenzen geht. Wolf rät, die expansive Geldpolitik fortzusetzen, Meier-Diem offeriert den Gemeinplatz, dass das Vertrauen wiederhergestellt werden müsse.

Ökonomie als Gesellschaftswissenschaft

Wenn uns die Ökonomie weiter helfen will, muss sie ihren Horizont erweitern und sich wieder als Gesellschaftswissenschaft verstehen. Konkret:

- Wertschöpfung kommt nicht nur von der bezahlten Arbeit.

- Mindestens ebenso wichtig ist die Selbstversorgung, die vor allen in Familien – und Nachbarschaftsverbünden organisiert ist.

- Zwischen Familien und Unternehmen besteht ein Konkurrenz – etwa um das Zeitbudget.

- Das, was wir als BIP-Wachstum bezeichnen, ist im wesentlichen bloss noch ein Verschieben von produktiven Tätigkeiten von der Sphäre der Selbstversorgung in die des Marktes.

- Arbeit – jeder Art – dient nicht nur der Produktion von immer noch mehr Gütern. Ihr wichtigster Nutzen liegt heute in der sozialen Integration der Menschen.

Zeit löst das Geld ab

Die Liste liesse sich beliebig verlängern. Sie mündet in der Feststellung, dass die Wirtschaft das Wohlbefinden der Leute nicht mehr durch die Menge der hergestellten Güter und Dienstleistungen beeinflusst, sondern durch die Art und Weise, wie sie unsere Gesellschaft organisiert und desorganisiert. Wer über diese Fragen sinnvoll nachdenken will, kann dies nicht mehr in Franken, Euro, Dollar oder BIP-Prozenten tun, sondern in Zeiteinheiten. Zeit ist der gemeinsame Nenner von Markt und Selbstversorgung. Die 24-Stunden, die uns pro Tag zur Verfügung, stehen sind die einziger wirklich knappe Ressource. (Von der Umwelt einmal abgesehen).

In der nächsten Kolumne werde ich  zu erläutern versuchen, welche konkreten wirtschaftspolitischen Möglichkeiten aus diesem erweiterten Blickwinkel wenigstens schon mal sichtbar werden. Über eine konkrete Umsetzung müsste dann natürlich noch heftig diskutiert werden. Vorerst stehen wir aber noch vor dem Problem, dass man mit den Scheuklappen der Ökonomen nichts sehen kann, worüber zu diskutieren sich lohnen würde.