Die Schweiz ist kürzlich haarscharf an einer überfälligen und höchst relevanten Diskussion vorbeigeschrammt. Ausgelöst wurde diese Beinahdebatte durch die Lohnstukturerhebung 2012. Sie zeigte, dass die Löhne der Männer und der Frauen wieder auseinanderdriften, nachdem sie sich jahrelang wenigstens leicht aufeinander zubewegt hatten. Warum?

Zu dieser Frage hatte sich Roland Müller, der Direktor des Arbeitgeberverbands, gleich mehrfach geäussert. Die "NZZ am Sonntag" fragte nach: "Sie sagten Anfang der Woche, Frauen seien selbst schuld daran, sie seien zu wenig engagiert. Worauf stützen Sie Ihr Urteil?" Antwort "Das habe ich so nicht gesagt. Die Lohndifferenzen kommen nicht zustande, weil Frauen nicht wollen - sondern sie hängen mit der Tätigkeit und dem Pensum zusammen. Meine Aussage bezog sich auf Flexibilität und Einsatzmöglichkeiten von einem Teil der Frauen, wie solchen mit Familie. Die Arbeitswelt ist dynamischer geworden und erwartet von Arbeitnehmern viel Flexibilität und hohe Einsatzbereitschaft. Dies fordert das Gesamtsystem heraus."

Was Müller mit "Gesamtsystem" genau meint, bleibt unausgesprochen. Aber es gibt eigentlich nur eine sinnvolle Auslegung: Es gibt einen Gegensatz zwischen der (unentgeltlichen) Welt der Familie und der Hausarbeit einerseits und der Welt der (bezahlten) Arbeit. Beide formen das "Gesamtsystem" und dieses ist durch die widersprüchlichen Anforderungen der beiden Teilsysteme herausgefordert. Also brauchen wir eine Diskussion darüber, wie wir - wie die Politik - das Neben- und Miteinander am besten organisiert.

Der Arbeitswelt alles unterordnen

Doch der weitere Verlauf des Interviews macht klar, dass sich Müller diese Frage eben doch nicht stellt. Für ihn steht unverrückbar fest, dass die Arbeitswelt in ihrer Dynamik hohe Flexibilität und Einsatzbereitschaft einfach braucht. Dem sei alles andere unterzuordnen, auch Familie und Privatleben. Der Interviewer fragt zwar ketzerisch nach, ob die Überstunden der Flexiblen und Leistungsbereiten wirklich "produktiv" seien, doch die Chance einer Diskussion über das Gesamtsystem war rasch vertan. Bald schon trampelten Müller und sein Interviewer wieder auf den ausgelatschten Mann-Frau-Bahnen. Die Quintessenz der Diskussion: Falls sich herausstellt, dass die Lohnunterschiede wirklich durch die unterschiedliche Flexibilität statt durch die Unterschiede des Geschlechts gerechtfertigt werden können, dann liegt keine Diskriminierung vor - und dann gibt es eigentlich auch kein Problem mehr.

Gibt es eben doch. Der absolute Vorrang des Unternehmens vor allen anderen sozialen Organisationen wie Familie, Vereine, Nachbarschaften usw. ist ein Problem, das weit über die Lohnfrage hinausgeht. Was haben wir davon, wenn zwar die Unternehmen dank der maximalen Flexibilität ihres Humankapitals vielleicht 3 Prozent effizienter arbeiten, dafür aber Ehen geschieden werden, Kinder verwahrlosen und abends die Dorfkneipe leer bleibt?

Ein frecher Bluff

Nüchtern betrachtet sind die totalitären Ansprüche der "dynamischen" Arbeitswelt ein frecher Bluff. Was haben wir denn von einer noch dynamischeren Arbeitswelt? Unser Wohlbefinden hängt immer weniger davon ab, ob die Wirtschaft noch mehr produziert. Alles in allen haben wir ohnehin schon mehr als genug von dem "Zeug". Viel wichtiger für unser Glück ist, dass wir unsere Familienleben und die sozialen Beziehungen verlässlich organisieren können. Auch die Betreuung der Kinder oder der betagten Eltern erfordert zuweilen eine gewisse Flexibilität.

Arbeitgeberdirektor Müller hat recht: Wir sollten endlich einmal über das Gesamtsystem nachdenken. Doch leider geht ihm in dieser Hinsicht jede Nachdenklichkeit ab.