Es gibt Schwarmintelligez, aber auch extreme Schwarmdummheit. So hat sich etwa der Schwarm der Ökonomen an der Worthülse des "Investorenvertrauens" festgebissen und daraus eine Religion gemacht. Jedes Institut, das etwas auf sich hält, hat einen eigenen "Investor Confidence Index" gebastelt. Wer dieses Stichwort googelt, wird mit 28,9 Millionen (!) Anschlägen reichlich belohnt. Der wichtigste Glaubenssatz der Investor Confidence Community lautet: Wachstum und Beschäftigung eines Standorts hängen davon ab, ob die Arbeitsmärkte flexibel und die Staatsfinanzen solid genug sind. Nur dann wird investiert. Zurzeit diskutieren die Gläubigen gerade darüber, ob das Investorenvertrauen bei einer Staatsschuldengrenze von 90- oder gar schon bei 85-BIP-Prozent erschüttert wird, wie die NZZ zu wissen glaubt.

Doch schalten wir den individuellen Verstand ein: Die Unternehmensinvestitionen machen typischerweise etwa 12 Prozent des BIP aus. Etwa die Hälfte davon stammt von KMU, die sich nicht auf den Finanzmärkten finanzieren. Grossunternehmen finanzieren sich im Schnitt zu weit über 100 Prozent selbst. Über den Daumen gepeilt bewegt "der Kapitalmarkt" nur etwa 5 Prozent des BIP. Standortverlagerungen von Grosskonzernen machen zwar Schlagzeilen, sind aber isolierte Ereignisse.

Denken wir weiter: Wovon hängt ein Investitionsentscheid ab? Laut Lehrbuch in erster Linie davon, ob die mit denen neuen Maschinen produzierten Produkte mit Gewinn abgesetzt werden können. Einfacher gesagt: Entscheidend ist die Einschätzung der Nachfrage. In diesem Zusammenhang mag vielleicht auch folgende Überlegung eine Rolle spielen: Weil die Staatsschuldenquote schon sehr hoch ist, könnte die Regierung demnächst Sparmassnahmen verhängen, die unseren Absatz gefährden. Hier ist es also, das Körnchen Wahrheit, das im 90- oder 85-Prozent-Gebot der Schwarmintelligenzia steckt.

Ein viel wichtigerer Begriff blieb bisher vom Schwarm unbeachtet. Das Konsumentenvertrauen. Der Privatkonsum macht immerhin direkt rund 60 Prozent des BIP aus und indirekt hängen an ihm auch die Investitionen der Unternehmen (siehe oben) und die Ausgaben des Staates, die bekanntlich weitgehend mit der Mehrwertsteuer finanziert werden. Das Konsumentenvertrauen hängt von der erwarteten Einkommensentwicklung ab. Wer Lohnkürzungen oder gar Arbeitslosigkeit befürchtet, schränkt seinen Konsum ein. Bei heute erreichtem Niveau kann man ohne spürbare Wohlstandseinbusse 10 bis 15 Prozent weniger ausgeben.  Und wenn sich dann die Rezession erst einmal abzeichnet, kann oder muss man sich, ohne Not zu leiden, noch einmal um 20 Prozent einschränken.

Dass das Konsumentenvertrauen der entscheidende Schwachpunkt moderner Volkswirtschaften ist, haben soeben die EU-Kommission und Bundekanzlerin Merkel in grossangelegten Feldversuchen bewiesen. In Irland ist die reale Binnennachfrage seit dem Höchststand von 2007 bis 2012 real um 23 Prozent geschrumpft. In Griechenland ist sie im selben Zeitraum sogar 27 Prozent zurückgegangen. Vergleicht man in beiden Ländern den aktuellen Binnenkonsum mit dem, der sich bei einer Fortsetzung des Trends von 2000 bis 2007 ergeben hätte, errechnen sich sogar Rückgänge um 46 bzw. 47 Prozent. In Spanien ist die einheimische Nachfrage auch schon um 15 Prozent gesunken bzw. liegt gut 30 Prozent unter dem Trend.

Die Tragik liegt darin, dass die Wirtschaftspolitik das Konsumentenvertrauen mit genau den Massnahmen zerstört hat, mit denen sie das Investorenvertrauen festigen wollte. Man poliert die 5 Prozent und stösst mit den Ellbogen beiläufig die 60 Prozent von der Kommode. Das hinterlässt Scherben: 12 Prozent allgemeine und 25 bis 60 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Tollpatschiger gehts nicht.

Offen bleibt noch die Frage, mit welchen konkreten "Strukturreformen" das Konsumentenvertrauen am nachhaltigsten erschüttert worden ist. Die einschlägigen Statistiken zeigen, dass sich in den Ländern mit dem stärksten BIP-Einbruch auch die Lohnausgaben des Staats besonders schlecht entwickelt haben.  Das deutet darauf hin, dass die Rolle des Staates als "Employer of Last Resort" (Arbeitgeber der letzten Instanz) entscheidend ist für die konjunkturelle Stabilität.

Doch bevor sich die Ökonomen diesen Details zuwenden, sollten sie - mit 50 Jahren Verspätung - endlich dies begreifen: In einer modernen Volkswirtschaft besteht die Kunst der Wirtschaftspolitik nicht darin, dafür zu sorgen, dass noch mehr Zeug produziert wird. Diese Sorge kann man getrost den Unternehmen überlassen. Viel wichtiger und schwieriger ist es, den Konsum auf einem Niveau zu halten, der Vollbeschäftigung garantiert.

Die EU-Kommission ist an dieser Aufgabe nicht zuletzt deshalb grossartig gescheitert, weil sie im Schwarm schwimmt, statt selber zu denken.