EZB-Präsidentin Christine Lagarde dämpfte unterdessen erneut die Erwartungen an die Notenbank, ihren Kurs zu wechseln. Es sei sehr unwahrscheinlich, dass die Bedingungen für eine Zinsanhebung im kommenden Jahr erfüllt seien, sagte Lagarde im Wirtschaftsausschuss des Europäischen Parlaments. Die Zentralbank gehe weiter davon aus, dass sich die Inflation im kommenden Jahr abschwächen werde. Dies werde aber langsamer vorangehen als erwartet. Gleichzeitig lasse das Wirtschaftswachstum aufgrund der Versorgungsengpässe und des Anstiegs der Energiepreise etwas nach.

Cornelius Riese, Co-Chef des genossenschaftlichen Spitzeninstituts DZ Bank, erinnerte bei der Frankfurter Konferenz daran, dass die EZB in den vergangenen Jahren angesichts seinerzeit vergleichsweise niedriger Teuerungsraten vor Deflation gewarnt hatte, also einem Verfall der Preise auf breiter Front als Risiko für die Konjunktur. "Für mich stellt sich die Frage: Wo ist eigentlich das Problembewusstsein, das kommunizierte Problembewusstsein der EZB, was analog ist, was synchron ist zum Thema Inflation?", sagte Riese.

Die Teuerungsraten in Deutschland und im Euroraum klettern seit Monaten. In Deutschland etwa lagen die Verbraucherpreise im Oktober um 4,5 Prozent über dem Niveau des Vorjahresmonats. Die Inflation ist damit so hoch wie zuletzt vor 28 Jahren.

Auch im Euroraum lag die Inflationsrate mit 4,1 Prozent im Oktober deutlich über dem von der EZB mittelfristig angestrebten Ziel von 2 Prozent. Lagarde bekräftigte: "Insgesamt gehen wir weiterhin davon aus, dass die Inflation mittelfristig unter unserem neuen symmetrischen 2-Prozent-Ziel bleibt."

Die EZB erklärt den Anstieg zum Grossteil mit Sonderfaktoren wie der Erholung der Ölpreise nach dem Corona-Schock sowie Lieferengpässen infolge der gestiegenen Nachfrage. Zudem schlägt die Rücknahme der vorübergehenden Mehrwertsteuersenkung in Europas grösster Volkswirtschaft Deutschland durch.

Doch etliche Volkswirte und Banker warnen davor, die Entwicklung zu unterschätzen. "Wir sehen auch, dass das Thema Inflation nicht ganz so temporär ist, wie es möglicherweise aus politischen Kreisen postuliert wird", sagte der neue Chef von HSBC Deutschland, Nicolo Salsano in Frankfurt.

Sewing bekräftigte: "Und mich persönlich macht mit Blick auf die Geldwertstabilität skeptisch, was ich in den Gesprächen mit unseren Kunden höre. Sie alle richten sich darauf ein, dass die hohen Inflationsraten länger andauern werden. Und wir wissen, was das heisst: Steigen die Inflationserwartungen, dann steigt in der Regel irgendwann auch die Inflation - und zwar längerfristig."

Kritiker werfen der EZB vor, mit dem billigen Geld die Inflation anzuheizen, die sie eigentlich im Zaum halten will. Der EZB-Rat will am 16. Dezember entscheiden, wie es mit den milliardenschweren Anleihenkäufen der Notenbank weitergeht. Nach bisheriger Planung soll das zur Abfederung des Corona-Schocks aufgelegte Kaufprogramm PEPP (Pandemic Emergency Purchase Programme) noch bis mindestens Ende März 2022 laufen.

Lagarde hatte nach der jüngsten EZB-Sitzung Ende Oktober gesagt, sie gehe davon aus, dass das PEPP im März enden werde. Allerdings will die Notenbank Geld aus auslaufenden Wertpapieren des 1,85 Billionen Euro umfassenden Programms auch danach neu anlegen. Zudem gibt es im EZB-Rat Sympathien für die Idee, die Flexibilität des Notkaufprogramms auf andere Anleihenkaufprogramme zu übertragen.

Sewing mahnte: "Die Folgen dieser ultralockeren Geldpolitik werden sich immer schwerer heilen lassen, je länger die Zentralbanken nicht gegensteuern." Der Frankfurter Wirtschaftsprofessor Volker Wieland, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Wirtschaftsweise), dämpfte mit Blick auf das Zinsumfeld die Erwartungen: "Das Risiko ist vielleicht grösser, dass die EZB lieber zu lange wartet als zu kurz."/ben/stw/jsl/DP/stw

(AWP)