Aufgrund des zuletzt milden Wetters und einer jüngst gesunkenen Nachfrage korrigierte der Preis für Erdgas am virtuellen Handelspunkt TTF (Title Transfer Facility) in Rotterdam. Dort ist wegen seines hohen Handelsvolumens der wichtigste Erdgas-Handelsplatz in Europa. Gas verbilligte sich vom Ende August erreichten Jahreshoch in Höhe von 311 Euro pro Megawattstunde auf zuletzt etwa 140 Euro pro Megawattstunde. Trotz dieses deutlichen Rückgangs ist auch das aktuelle Niveau in einem längerfristigen historischen Vergleich sehr hoch bzw. für energieintensive Industrien zu hoch: 140 Euro pro Megawattstunde sind beispielsweise mehr als zehn Mal so viel wie der entsprechende Preis Ende November 2020. "Energieintensive Unternehmen, die z.B. voll auf Deutschland als Produktionsstandort angewiesen sind, sind damit perspektivisch nicht wettbewerbsfähig", ist Stefan Breintner, Leiter Research von DJE Kapital, überzeugt.
Warnungen aus der Wirtschaft - Beispiel BASF
Aus der Wirtschaft mangelt es entsprechend nicht an Warnungen in Richtung der Politik. BASF als (noch) führendes Chemieunternehmen der Welt ist mit einem Anteil von 4% der grösste deutsche Gasverbraucher. Planungen von BASF scheinen davon auszugehen, dass man mittelfristig beim Gaspreis mit dem dreifachen Niveau in Europa im Vergleich zu den USA rechnen muss. "In diesem Szenario wird es zwangsläufig zu einer deutlichen Reduzierung der Kapazitäten in Deutschland bzw. Europa kommen. Zwar gibt es noch bis 2025 eine Jobgarantie in Ludwigshafen, aber eine deutliche Kapazitätsreduzierung am deutschen Hauptstandort scheint unausweichlich", sagt Breintner. Die hieraus resultierenden negativen Netzwerkeffekte auf Zulieferer, Anwohner (Fernwärme) und Stadt/Kommune (Gewerbesteuer) dürften derzeit noch massiv unterschätzt werden.
Nächster Winter könnte kritischer werden
"Realistisch ist, dass der Preis für Erdgas perspektivisch hoch bleiben wird bzw. wieder steigt", sagt Breintner. Problematisch könnte vor allem der Winter 2023/24 werden. Blackouts oder ähnliche Horrorszenarien erscheinen im übernächsten Winter realistischer als 2022/23. Hintergrund ist, dass es sehr schwierig sein wird, ab März/April 2023 die Gasspeicher wieder aufzufüllen. Das aktuell dort vorhandene Gas trägt zwar kein Herkunftsschild, aber klar ist, dass der Grossteil russischen Ursprungs ist.
Vor dem Krieg in der Ukraine hat Russland an die Europäische Union (EU) insgesamt 155 Mrd. m3 Gas geliefert. Die Lieferungen erfolgten über die drei Pipelines Nordstream 1, Yamal (über Weissrussland/Polen) und über eine Pipeline durch die Ukraine. Davon ist aktuell nur noch die grösste, diejenige durch die Ukraine, in Teilbetrieb. Realistisch ist, dass 2023 gar kein russisches Gas mehr kommt. "Wie die EU ab 2023 bis zu 155 Mrd. m3 Gas ersetzen will, ist mit der Analyse der vorliegenden Daten bzw. der weltweiten LNG-Ströme nicht ersichtlich. Ohne extremes Sparen bzw. deutliche und anhaltende Verbrauchsreduzierung wird es wohl nicht gehen", ist Breintner überzeugt.
Preisdeckel für Gas als Lösung?
Kritisch sieht Breitner den von der EU-Kommission diskutierte Vorschlag eines Preisdeckels für Erdgas am Knotenpunkt TTF. Eine Preisgrenze im Grosshandel für Lieferverträge im kommenden Monat beschneidet die Fähigkeit der jeweiligen Marktteilnehmer, Risiken abzusichern und könnte negative Auswirkungen auf die Versorgungssicherheit haben. Bei einem zu tief gesetzten Preisdeckel im Grosshandel ist die Wahrscheinlichkeit gross, dass die EU letztendlich unattraktiver für Energieimporteure wird und diese auf andere, weniger regulierte Märkte ausweichen. Nach den jüngsten Vorschlägen der EU-Kommission soll der Preisdeckel wohl aber bei 275 Euro pro Megawattstunde liegen. Dieses Niveau wurde 2022 nur an sehr wenigen Tagen überschritten. Der Gaspreisdeckel würde demzufolge nur bei extremen Preisspitzen greifen. Die grossen europäischen Öl- und Gaskonzerne haben im Hinblick auf die Gewinnentwicklung allesamt ein hohes Exposure zur Preisentwicklung am Knotenpunkt TTF, das heisst deren realisierte Preise basieren oft überwiegend auf dem TTF-Preis.
Flüssiggas-Kapazitäten vorhanden, aber nicht genutzt
Obwohl das Angebot von Flüssiggas (LNG) geschätzt um mehr als 20 Prozent (gegenüber dem Niveau aus 2020) auf ca. 450 Mio. Tonnen im Jahr 2025 wächst, dürfte die weltweite Nachfrage nach Flüssiggas das Angebot auch in den kommenden Jahren klar übersteigen. Nach aktuellen Prognosen zum Ausbau der Kapazitäten werden Angebot und Nachfrage im weltweiten LNG-Markt frühestens 2026 wieder im Gleichgewicht sein. Defizitsituationen an Energiemärkten bedeuten im Regelfall hohe Preise. "Daher ist davon auszugehen, dass die Preise für LNG strukturell über viele Jahre hinweg auf hohem Niveau bleiben werden", meint Breintner. Demzufolge bleiben auch die Gewinnaussichten für die führenden LNG-Produzenten unverändert gut. Deutschland will bereits im kommenden Jahr mithilfe der bis zu fünf schwimmenden LNG-Terminals insgesamt etwa 25 Mrd. m3 Flüssiggas importieren. Gelänge dies, hätte Deutschland damit mehr als 50 Prozent der russischen Gasimporte (Referenzjahre 2020/21) durch Flüssiggasimporte ersetzt - allerdings zu massiv höheren Preisen.
Die Schlüsselrolle beim Export bzw. der LNG-Versorgung für Deutschland und Europa spielen dabei die USA bzw. die dort ansässigen Produzenten. Generell haben die meisten Produzenten den überwiegenden Anteil ihrer Kapazitäten über Langfristverträge - in der Regel 20 Jahre - verkauft. Bereits angestossene Erweiterungsprojekte und Effizienzsteigerungen schaffen aber über die nächsten Jahre zusätzliche Kapazitäten, die dann zu voraussichtlich hohen Preisen verkauft werden können. Klarer Treiber für das Geschäft der US-LNG-Produzenten ist der politische Druck in Europa, sich dauerhaft unabhängig von russischem Gas zu machen.
Erneuerbare Energien brauchen wirtschaftlich gutes Fundament
Um die europäische Energiekrise dauerhaft zu lösen, muss aber nicht nur eine neue Gas-Infrastruktur aus- und aufgebaut werden. Auch die Erneuerbaren Energien müssen massiv ausgebaut werden. Ohne ein wirtschaftlich gesundes Fundament wird der Ausbau der Erneuerbaren gemäss Breitner allerdings schwierig, und für die Übergangszeit sind die fossilen Brennstoffe nicht zu ersetzen. Zwar habe sich deutsche Regierung zum Ziel gesetzt, den Ausbau der Erneuerbaren zu beschleunigen, wobei bis 2030 der Stromverbrauch zu 80 Prozent daraus gedeckt werden soll. Doch der Ausbau komme nicht entscheidend voran – Knackpunkt sind die langen Genehmigungsverfahren, die den Ausbau ausbremsen. Angesichts dessen erwägt Bundeswirtschaftsminister Habeck Staatsgarantien für die Wind- oder Solarbranche. Denkbar seien Produktions- oder Abnahmegarantien. Aber auch eine Vereinfachung der Genehmigungsverfahren wäre ein erster wichtiger Schritt und dürfte 2023 auch kommen.
Kritisch für die ambitionierten Zielsetzungen der Politik sind auch die Kapazitäten bei den Unternehmen beispielsweise der Wind-, Solar- und Wasserstoffbranche. Wesentliche Komponenten für Solar- und Windparks werden aktuell überwiegend in China gefertigt. Bei einer Verschlechterung der Handelsbeziehungen mit China würde das Ausbauziel bei den Erneuerbaren in weite Ferne rücken, ist Breintner überzeugt.