cash: Herr Hug, im dritten Quartal 2015 hat sich gemäss Pensionskassen-Monitor von Swisscanto die Finanzierungssituation der Schweizer Pensionskassen verschlechtert, der Deckungsgrad ist im Schnitt gesunken. Machen Sie sich Sorgen um den Zustand der Pensionskassen?

Werner C. Hug: Mit 109 Prozent Deckungsgrad im Durchschnitt geht es der überwältigenden Mehrheit der Kassen gut. Die meisten melden erfreulich hohe Schwankungsreserven. Sie federn damit die Börsenflaute der letzten Monate ab. Ich mache mir deshalb keine Sorgen um den Zustand der Kassen in Vollkapitalisierung. Allerdings darf nicht vergessen werden, dass der Deckungsgrad alleine keine verlässliche Aussage über den Zustand der Pensionskassen erlaubt.

Was sollte denn zusätzlich berücksichtigt werden?

Entscheidend sind neben dieser Grösse die Struktur der Kasse, sprich die Anzahl der aktiv Versicherten und Rentner, und der technische Zinssatz. Dahinter steckt der Umwandlungssatz. Hinzu kommen die Zukunftsaussichten der Firma. Es kommt somit stets auf die einzelne Kasse an.

Trotzdem sollen derzeit 6 Prozent der privatrechtlichen und 36 Prozent der öffentlich-rechtlichen Kassen unterdeckt sein. Das heisst, diese Pensionskassen haben weniger Kapital zur Verfügung als sie voraussichtlich benötigen.

Wenn privatrechtliche Kassen eine Deckung von wenig unter 100 Prozent aufweisen, dann müssen die Organe in diesen Kassen wachsamer sein. Sie haben eine Sorgfaltspflicht. Bezogen auf den eindimensionalen Richtwert 'Deckungsgrad' bedeutet dies, dass für eine zukunftsfähige Kasse wegen der fehlenden Schwankungsreserven mindestens Kapitalien im Umfange von 10 bis 15 Prozent fehlen. Der Stiftungsrat ist deshalb gefordert.

Ist die Situation anders für öffentlich-rechtliche Kassen?

Von öffentlich-rechtlichen Kassen mit Vollkapitalisierung sind 23 Prozent im Bereich zwischen 95 und 100 Prozent, 11 Prozent weisen Deckungsgrade zwischen 90 und 95 Prozent aus und 2 Prozent liegen darunter. Hier sind neben dem obersten Organ auch die Verantwortlichen in der Exekutive und Legislative gefordert. Für sie gelten dieselben Regeln wie für die privaten Pensionskassen.

Welche Regeln sind das?

Vertiefte Analysen und die Einleitung von Sanierungsmassnahmen werden notwendig, wenn der Deckungsgrad unter 95 Prozent fällt. Wenn die Kasse nur noch unter 90 Prozent gedeckt ist, kommt es zwangsweise zu schärferen Massnahmen von Gesetzes wegen.

Auffallend ist, dass die Unterdeckung bei öffentlich-rechtlichen Kassen bedeutend höher ist als bei privaten-rechtlichen.

Es muss unterschieden werden zwischen öffentlich-rechtlichen Kassen mit Vollkapitalisierung und jenen mit Teilkapitalisierung. 60 Prozent der teilkapitalisierten Kassen mit Staatsgarantie haben einen Deckungsgrad von unter 80 Prozent. Diese Kassen müssen innert der nächsten 40 Jahre eine Volldeckung erreichen. Liegt der Deckungsgrad deutlich unter 80 Prozent und garantieren sie eine bestimmte Leistung, dann sind diese Kassenorgane besonders gefordert. Sie müssen die zu hohen Leistungsversprechen reduzieren, ins Beitragsprimat wechseln, höhere Beiträge erheben und der Arbeitgeber sollte eine Einmaleinlage leisten.

Wann wirkt sich eine Unterdeckung negativ auf die Versicherten aus?

Liegt der Deckungsgrad in privatrechtlichen Kassen unter 90 Prozent, müssen Massnahmen im Rahmen eines Konzeptes zur Erreichung einer 100-prozentigen Deckung innerhalb von 5 bis 10 Jahren ergriffen werden. In diesem Fall können Sanierungsbeiträge à fonds perdu von den Versicherten eingefordert werden. Mit diesen höheren Einzahlungen in die Pensionskasse wächst ihr Altersguthaben nicht. Möglich sind auch Minderverzinsung und sogar Leistungskürzungen, was sich unmittelbar negativ auf die künftige Rente auswirkt. Bei einem Stellenwechsel ist es deshalb angezeigt, auch zu fragen, wie es um die Pensionskasse der Firma steht.

Wie gehen die Pensionskassen mit den im Januar eingeführten Negativzinsen um?

Statistisch wissen wir nicht, welche Kassen in welchem Umfang unter den Negativzinsen leiden. Aus Gesprächen kann festgestellt werden, dass in vielen Fällen die Kassen ihre Liquidität, falls nötig, auf mehrere Banken verteilen. Mit tieferen Kontobeständen können in der Regel Negativzinsen verhindert werden. Sollte dieser Zustand länger anhalten, dann dürften allerdings echte Probleme entstehen, die Kosten verursachen. Pensionskassen sollten deshalb von Negativzinsen ausgenommen werden.

Die tiefen Zinsen nagen an der Rendite. Wie lange können Pensionskassen das Negativzinsumfeld noch ertragen, bevor ihre Existenz gefährdet ist?

Die Kassenverantwortlichen haben die Krisen 2008 und 2011 überstanden. Sie werden auch kommende Einbrüche an den Finanzmärkten bewältigen. Allerdings drückt der Umwandlungssatz von 6,8 Prozent im Obligatorium auf die bestehenden Verpflichtungen. In reinen BVG-Kassen kann die Existenz gefährdet sein.

Ist der aktuelle obligatorische Umwandlungssatz von 6,8 Prozent zu hoch?

Dieser Umwandlungssatz verlangt eine Sollrendite von mindestens 3,5 Prozent. Wird er nicht bald und rasch gesenkt, dann sind auch zunehmend umhüllende Kassen gefährdet, welche Obligatorium und Überobligatorium einschliessen. Deshalb weichen die Kassen heute auf risikoreichere Anlagen wie Aktien oder alternative Anlagen aus. Bestehen Schwankungsreserven im Umfange von 15 und mehr Prozenten, kann das Niedrigzinsumfeld während einer beschränkten Zeit umfahren werden.

Die Anlagerenditen sind derzeit, auf das Jahr 2015 betrachtet, im Schnitt negativ. Zu einem grossen Teil sollen Einbussen bei den weltweiten Aktien daran schuld sein. Gehen Pensionskassen zu hohe Risiken ein, um eine akzeptable Rendite zu erwirtschaften?

Angesichts des Niedrigzinsumfeldes bleibt den Kassen nichts anderes übrig, als in Aktien zu investieren. Deshalb haben sie die letzten wenigen guten Jahre dazu genutzt, ihre Schwankungsreserven zu äufnen. Liegen diese über 15 Prozent, dann können sie auch die kommenden Einbrüche überstehen. Danach muss es aber wieder aufwärts gehen.

Das umfassende Reformprojekt Altersvorsorge 2020 soll die Rentenfinanzierung längerfristig sichern und sieht Anpassungen in der 1. und 2. Säule vor. Geht die Vorlage weit genug oder ist es eine Kompromisslösung, die schlussendlich keine Probleme löst?

Bundesrat und Ständerat haben entschieden, den Zeithorizont zur Sicherung der AHV auf das Jahr 2030 zu beschränken. Mit dem 'Geschenk' von 70 Franken für Neurentner und der Erhöhung der Ehepaarrenten, finanziert über 0,3 Prozent höhere AHV-Beiträge, wird die Finanzierungslücke ab 2030 allerdings deutlich zunehmen. Die Belastung der Arbeit und die Erhöhung der Mehrwertsteuer um insgesamt 1 Prozent reichen somit nicht aus.

Was braucht es Ihrer Meinung nach denn zusätzlich?

Meines Erachtens sollte der Nationalrat auf dieses Geschenk verzichten und dafür die AHV mit einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um 1,5 Prozent bis über 2030 hinaus sichern. Will man dem Volk darüber hinaus ein Zückerchen verabreichen, wäre es sozialgerechter, anstatt Geschenke mit der Giesskanne zu verteilen besser die Renten der kleinen Lohnbezüger über die Ergänzungsleistungen zu verbessern. Dazu braucht es aber weitere finanzielle Mittel für Bund und Kantone.

Ein Punkt der Altersvorsorge 2020 ist die Reduktion des obligatorischen Umwandlungssatzes von aktuell 6,8 Prozent auf 6,0 Prozent. Eine Senkung auf 6,4 Prozent wurde 2010 vom Volk aber mit 72,7 Prozent der Stimmen wuchtig abgelehnt. Hätte eine solche Vorlage überhaupt eine Chance, vom Volk angenommen zu werden?

Die Rentenhöhe mit einem Umwandlungssatz von 6,8 Prozent wird gemäss den Entscheiden des Ständerates im Obligatorium während 15 Jahren garantiert. Diese Renten werden über Beiträge von allen Kassen an den Sicherheitsfonds alimentiert und finanziell gesichert. Die Versicherten in den gut finanzierten Kassen unterstützen damit die kleinen Einkommen. Diese Solidarität muss und kann dem Bürger erklärt werden. Will der Gesetzgeber darüber hinaus – aus Angst vor einer Ablehnung in einer Volksabstimmung – Geschenke verteilen, müssen diese auch finanziert werden. Dabei sollte 1. und 2. Säule nicht miteinander vermischt werden.