Die Kolumne «Gopfried Stutz» erschien zuerst im 

 

Heute beginnen wir mit einem Gedankenspiel. Was ist Ihnen lieber?

A: Ein sicherer Gewinn von 250 Dollar.
B: Eine 25-prozentige Chance, 1000 Dollar zu gewinnen (mit einer 75-prozentigen Chance, leer auszugehen).

Die Mehrheit zieht A vor, das haben Studien wiederholt belegt. Man könnte auch sagen: Lieber den Spatz in der Hand als die Taube auf dem Dach.

Kommen wir zum zweiten Beispiel. Was ziehen Sie vor?

C: Einen sicheren Verlust von 750 Dollar.
D: Eine 75-prozentige Chance, 1000 Dollar zu verlieren? Oder anders gesagt: Eine 25-prozentige Chance, nichts zu verlieren?

Beide Kombinationen bestehen aus sicherer Option und Lotterie: Wer also die Variante A der Variante B vorzieht, müsste eigentlich nach der gleichen Logik und Wahrscheinlichkeit beim zweiten Beispiel die Variante C der Variante D vorziehen. Also lieber einen kleineren Verlust verbuchen, statt das Risiko eines grösseren Verlusts in Kauf zu nehmen.

Doch die Realität ist eine andere: Die Mehrheit setzt beim ersten Beispiel auf A; beim zweiten Beispiel auf D, auf die Lotterie.

Nachzulesen sind diese Beispiele in "Schnelles Denken, langsames Denken" von Daniel Kahneman, einem Psychologen, der 2002 mit dem Wirtschaftsnobelpreis geehrt wurde. "Menschen neigen dazu, bei Gewinnen risikoscheu und bei Verlusten risikofreudig zu sein", schreibt der israelisch-amerikanische Doppelbürger im genannten Bestseller.

Gemäss seinen Angaben bevorzugten 73 Prozent der Befragten die Option AD, also beim Gewinn den Spatz in der Hand und beim Verlust die Taube auf dem Dach.

Steigen die Aktien, so neigen Anleger dazu, sie eher zu früh zu verkaufen und den Kursgewinn ins Trockene zu bringen. Ich brauche hier ausdrücklich nur die männliche Form. Ob bei Anlegerinnen das gleiche Anlageverhalten zu beobachten ist, weiss ich nicht.

Umgekehrt gebärden sich Anleger äusserst zurückhaltend, wenn es darum geht, Aktien mit einem Kursverlust zu verkaufen. Lieber sitzt man die Verluste aus, auch wenn die Aussichten nicht gerade rosig sind.

Dieses Phänomen beobachte ich regelmässig in meinem Umfeld, wenn ich mit Kollegen – leider nie mit Kolleginnen – über Aktienanlagen philosophiere. Und ja: Ich beobachte es auch bei mir selber.

Ich tue mich wahnsinnig schwer, ein Wertpapier oder einen Fonds mit Verlust zu verkaufen, auch wenn eigentlich nichts dafür spricht, dass sich der Kurs in absehbarer Zeit erholen wird. Umgekehrt verkaufe ich das Papier relativ schnell wieder, wenn ich sehe, dass ich damit einen für mich respektablen Gewinn erzielen kann. Gewinne realisieren, nennt man das.

Ich kann gut mit diesem Widerspruch leben, auch wenn das nach Erkenntnissen der Finanzmarkttheorie falsch ist. Doch all die von Ökonomen verbreiteten Regeln und Strategien mögen wichtig sein für professionelle Investoren, die die Performance gegenüber Verwaltungsräten oder Kunden rechtfertigen müssen. Ich selber will mich wohlfühlen mit meinen Finanzanlagen. Wenn ich aber etwas mit Verlust verkaufen muss, fühle ich mich verdammt unwohl.