cash: Herr Oberholzer-Gee, Sie sind an der Harvard Business School ein Experte zum Thema Digitalisierung von Unternehmen. Sie selber benützen zu Hause Amazon Echo, einen zylinderförmigen Netzwerklautsprecher, bei dem man mündlich Bestellungen aufgeben oder Informationen abfragen kann. Ist das bloss eine Spielerei oder gehört so etwas zur Smart-Home-Zukunft?

Felix Oberholzer-Gee: Bei Echo hat die Spracherkennung grosse Fortschritte gemacht, auch gegenüber dem iPhone. Man kann auch aus entfernter Distanz etwas abfragen, ohne googeln zu müssen. Oder man kann mündlich kurz eine Bestellung zum Beispiel von WC-Papier durchgeben, falls keines mehr da ist. Die Technik der Spracherkennung wird eine grosse Zukunft haben. Ich wäre sehr überrascht, wenn wir in zehn Jahren noch auf Geräten tippen würden. Echo ist ein Schritt in diese Richtung. Echo löst natürlich auch eine Diskussion über die Privatsphäre aus, weil Echo immer mithört. Da stellt sich die Frage, inwiefern man Amazon an den Diskussionen zu Hause teilhaben lassen möchte. (Zum Werbe-Video von Amazon Echo auf Youtube)

Amazon Echo als Familienmitglied?

Ja, gewissermassen schon. Es sagt zwar nicht viel, ist aber 24 Stunden am Tag sehr aufmerksam. Neben Echo gibt aber auch andere Modelle, die sich abschalten lassen.

Trotzdem muss man sich die Frage stellen, ob ein solches Gerät nicht wegen Ängsten um die Privatsphäre scheitert.

Fragt man die Leute generell abstrakt, wie wichtig ihnen die Privatsphäre ist, dann ist die Antwort meist klar. Sie sind gegen Überwachung durch Technologie oder Staat. Schaut für die Leute aber jeweils ein kleiner Vorteil heraus, dann ist vieles anders. Nehmen Sie das Online-Check-in von Fluggesellschaften. Eigentlich eine schreckliche Sache für den Kunden. Die Airlines haben ja Angestellte dafür. Warum tun die Kunden es trotzdem? Weil sie ihren Sitzplatz aussuchen können. Den gleichen Mechanismus beobachten wir auch beim Thema Privatsphäre. Wenn Kundinnen und Kunden kleine Vorteile haben, zeigt die Erfahrung, dass sie gerne mit beschränkter Privatsphäre leben.

Die Digitalisierung verursacht generell diffuse Ängste. Massenhafter Abbau von Arbeitsplätzen gehört dazu. Sind diese Ängste berechtigt?

Es gibt kein ökonomisches Gesetz, das besagt, dass sich die Nachfrage nach Arbeit bei technologischem Fortschritt erhöht oder zumindest gleich bleibt. Beim Einsatz neuer Technologie beabsichtigt man aber einen besseren Service oder Kostenreduktionen. In beiden Fällen steigt die Nachfrage nach Produkten und Dienstleistungen. Ein Roboter, der Autos zusammenbaut, kann die Preise senken und die Qualität steigern. Das produziert in der Regel mehr Nachfrage nach Arbeit. Wir haben heute sehr viele Jobs, die vor zehn Jahren noch nicht existierten. Die historische Beobachtung, dass Technologie neue, aber andere Arbeit schafft, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit auch in der Zukunft gelten.

Aber es gibt Jobs, die speziell gefährdet sind. Braucht es Sie als Professor in 20 Jahren noch?

(lacht) Das ist tatsächlich eine interessante Frage, die wir uns bei Harvard auch permanent stellen. Das Angebot an Wissen war eigentlich nie das Problem in der Ausbildung. Engagement ist das Problem. Harvard Business School hat zwei oder drei Produkte erarbeitet, welche Engagement gleich gut oder vielleicht gar noch etwas besser als im Vorlesungssaal produzieren können. Aber das ist ein Prozess, der nicht von heute auf morgen passieren kann.

Sie leben seit fast 20 Jahren in den USA. Dort haben sich Unternehmen wie Alphabet, Facebook, Microsoft oder Apple einen Vorsprung in ihren Geschäften gegenüber der internationalen Konkurrenz erarbeiten können. Werden die US-Unternehmen ihren Technologie-Vorsprung längerfristig halten können?

Ich glaube, der Wettbewerb in diesen Gebieten war und ist viel offener als man gemeinhin annimmt. Klar haben viele US-Tech-Unternehmen Erfolg, aber es ist nicht schwer, Gegenbeispiele zu finden. Google hatte zum Beispiel nie Erfolg in Südkorea. In Russland haben Gmail oder Google null Erfolg. Taobao dominiert den China-Markt bei E-Commerce. Das Spezielle am US-Modell ist die historisch einmalige Symbiose von technologie-begeisterten jungen Leuten, offenen Menschen und Financiers im Silicon Valley. Es gibt keine US-Stadt, die nicht probierte, Silicon Valley zu reproduzieren. Keine hatte Erfolg damit. In diesem Sinn bleibt Sillicon Valley einmalig und damit ein Vorteil für das amerikanische System.

Wie kamen Sie überhaupt zum Job als Professor an der Elite-Schule Harvard Business School?

Eigentlich durch einen glücklichen Zufall. Ich arbeitete am Institut für empirische Wirtschaftsforschung der Uni Zürich, und damals hatten wir einen Gastprofessor aus den USA. Er sagte mir, dass es eine halbjährige Gaststelle im MBA-Programm an der Wharton School der University of Pennsylvania gäbe. Ich hatte kaum eine Vorstellung von einem MBA-Programm, nahm aber die Gelegenheit wahr. Ich kehrte dann nach einem halben Jahr nach Zürich für die Doktorarbeit zurück und unterrichtete anschliessend wieder während sechs Jahren an der University of Pennsylvania. Erst dann ging ich an die Harvard Business School. Das ist die richtige Schule für mich, weil sie sehr praxisorientiert ist.

Unter jungen Leuten in Europa beobachtet man einen Trend zu weniger Arbeit, mehr Freizeit und Familie, die Karriere hat nicht mehr oberste Priorität. Ihre Schüler sind etwa 28 Jahre alt und haben schon einige Jahre gearbeitet. Beobachten Sie einen solchen Wandel des Arbeitsethos auch an Harvard?

Die Beobachtung, die Sie schildern, fällt mir auch auf, wenn ich in Europa weile. Das ist ganz anders in den USA und schon gar nicht Harvard-typisch. Für viele Leute in Europa ist die Arbeit nicht mehr das Lebenszentrum.

Woran liegt das? Ist das ein Wohlstandsphänomen?

Die Amerikaner sind im Schnitt reicher als die Europäer, daher fällt dies als Erklärung weg. Ich glaube, es hat eher mit dem Drang zu tun, dass man etwas verändern will. Wenn ich in Afrika weile, sehe ich viele Chinesen und Amerikaner, aber kaum Europäer. Heute gehen auch viel mehr Harvard-Absolventen zu kleineren und unbekannten Firmen als früher. Sie glauben daran, dass sie viel schneller etwas bewirken können als bei grösseren Unternehmen. Dieser Drive fehlt in Europa. Es wäre aber vermessen zu behaupten, das amerikanische Modell sei richtig und das europäische falsch. Jeder muss selber entscheiden, wie er sein Leben leben will und was ihn glücklich macht.

Ihre Absolventen gehören später zu den Top-Verdienern der Welt. Verdienen die Top-Manager nicht zuviel?

Es gibt Top-Manager, die überbezahlt sind. Dieses Thema macht sich ja übrigens Bernie Sanders (Kandidat der Demokratischen Partei für die Vorwahlen zur US-Präsidentschaft, Anm. der Red.) sehr zu eigen. Die CEO-Gehälter in den USA sind explodiert. Aber diese hohen Gehälter basieren zu einem grossen Teil auf Performance, also etwa Aktien, die über einen längeren Zeitraum gehalten wurden und dann auf einen Schlag zur Auszahlung gelangen. Das Vermögen der CEO schwankt teilweise enorm, je nachdem, wie gut es dem Unternehmen läuft. Das gefällt mir. Eine Ausnahme bildet die Bonuskultur im Finanzdienstleistungsbereich.

Weshalb?

Der Bonuspool von Wall Street ist etwa gleich gross wie die Summe, welche alle Amerikaner zusammenbringen, die zum Mindestlohn arbeiten. Diese Bonuskultur hat sehr wenig damit zu tun, wie viel die Leute tatsächlich leisten. Das ist einfach nur Missbrauch. Es zeigt auch die Unmöglichkeit der Aktionäre zur Einflussnahme auf diese Kultur. Ich hoffe, dass der öffentliche Druck diesen Zustand korrigieren kann. Niemand ist sauer, wenn ein Bill Gates oder ein Warren Buffett reich sind. Aber wenn jemand Wertschriften handelt, wie dies Tausende andere auch können, und eine Drittelsekunde schneller tradet und damit einen massiven Bonus einfährt, dann steht dies in massiven Widerspruch zur wirtschaftlichen Leistung.

Wird so etwas auch bei Ihnen im Campus diskutiert?

Vermögens- und Einkommensunterschiede sind ein grosses Thema unter den Studierenden. Wir haben Leute aus Familien, die Milliarden besitzen. Die fliegen schon mal mit dem Privatjet ein. Die Hälfte unserer Studierenden erhält aber Stipendien, weil die das Studium nicht bezahlen können. Da prallen ganz unterschiedliche Lebensstile aufeinander. Ich glaube, die Gesellschaft muss generell mit dem Reichtum umgehen können. Die Reichen einerseits müssen zeigen, dass sie tatsächlich gesellschaftlich Wertvolles geschaffen haben. Der Rest muss akzeptieren, dass sie sich nicht alles leisten können. Eine Neidkultur bringt nichts.

Wie beurteilen Sie die politische Stimmung in den USA im Wahlkampf?

Wir haben zwei Leute - Bernie Sanders von den Demokraten und Donald Trump von den Republikanern - , die im Prinzip gegen die eigene Partei antreten. Das hat damit zu tun, dass die Politiker sich jahrelang nicht um die eigenen Leute kümmerten. Sanders und Trump haben erkannt, dass es Themen gibt, welche die Leute beschäftigen. Themen, auf welche die grossen Parteien unfähig und unwillens waren, zu reagieren.

Donald Trump als US-Präsident, käme das gut?

Das ist eine rhetorische Frage, weil Trump natürlich keine Chance hat in einem allgemeinen Wahlkampf.

Wie beurteilen Sie den Zustand der US-Wirtschaft?

Die Arbeitslosigkeit ist mit 5,5 Prozent für US-Verhältnisse tief. Das Problem ist aber, dass die Löhne nicht steigen. Es hat einfach noch zu viele Leute, die denselben Job machen könnten. Wenn die USA weiterhin Arbeitsplätze schaffen wie etwa im letzten Jahr, dann werden die Löhne sicher steigen. Handkehrum muss man die US-Notenbank angesichts der wirtschaftlichen Lage auch verstehen, dass sie sehr vorsichtig ist bei den Leitzinsanhebungen.

Sie sind ja auch für ein Senior-Executive-Program für chinesische Unternehmensleiter verantwortlich und unterrichten oft in Shanghai...

Ich war ja in den 80er Jahren schon als Austauschstudent für ein Jahr in Peking. Die Veränderungen sind gewaltig.

Das ist auch mittlerweile der Einfluss von China auf die Wirtschaft und die Märkte. Wie steht es um die Wirtschaft Chinas? Stimmen die Wachstumszahlen überhaupt?

Die nominalen Wachstumszahlen sind qualitativ nicht schlecht. Das Problem ist das Messen der Inflation. Die realen Zahlen sind dann nicht mehr so glaubwürdig. Klar, viele grosse international tätige Unternehmen haben viel in China investiert. Aber die Weltwirtschaft hängt nicht allein davon ab, was China tut oder eben nicht tut. Das Potenzial ist nach wie vor riesig. China ist ja heute schon die zweitgrösste Volkswirtschaft. Mit über einer Milliarde Menschen produzieren die Chinesen aber gerade mal ein bisschen mehr als die 100 Millionen Japaner. Stellen Sie sich vor, was es für die WeltWirtschaft bedeutete, wenn die Chinesen bloss halb so viel produzieren würden wie die Japaner. Das wäre unglaublich. Es gibt hingegen noch Hindernisse. Chinas Wirtschaft ist gewachsen wie die japanische vor der Krise in den 80er Jahren. Nämlich im wesentlichen über Investitionen. Aber eine Volkswirtschaft kann auf diese Weise nicht unbeschränkt wachsen. Die Sparquote in China macht mehr als 50 Prozent des Bruttosozialproduktes aus. Die Leute in China sparen, weil keine Sozialversicherungen vorhanden sind. Die Regierung versucht nun einen Übergang zu finden von Investitionen hin zum Konsum als Hauptmotor des Wachstums. Dieser Wechsel muss gelingen, um das wahre Potenzial der chinesischen Wirtschaft zu aktivieren. 

Wenn Sie in die Schweiz zurückkehren, nerven Sie sich über die immer gleichen Debatten über Immigration…

Nun, das ist mittlerweile in den USA nicht mehr anders. Ich komme also jeweils gut vorbereitet an… (lacht).

Was nervt Sie denn?

Immigration schafft Gewinner und Verlierer. Aber netto gewinnen die Volkswirtschaften, wenn Leute ein- und ausreisen können. Die Schweiz ohne Immigration wäre nicht die Schweiz von heute. Mich stört die Tatsache, dass man nicht einfach offen sagen kann: Die Leute, die in die Schweiz eingewandert sind, haben eine grossen Teil zu einer erfolgreichen Schweiz beigetragen. Es ist ja auch nicht so, dass alle Migranten bleiben wollen. Als die Mauer fiel, migrierten Millionen Osteuropäer nach Westen. Viele von ihnen befinden sich heute wieder in Osteuropa. Solche Entwicklungen konnte man auch bei früheren Flüchtlingsströmen beobachten. Ich finde es schäbig, dass Länder wie Jordanien mit einer Bevölkerung von 9,5 Millionen oder Libanon mit 4,8 Millionen Einwohnern je über eine Millionen syrische Flüchtlinge aufnehmen, und das reiche Europa mit einer Bevölkerung von 750 Millionen sperrt sich dagegen. Klar ist aber auch: Eine Schweiz kann nicht die Lösung sein für die Armut in Afrika. Aber mich stört, dass man Flüchtlingspolitik dazu benützt, Ängste zu schüren vor der allgemeinen Migration.

Wie investieren Sie Ihr Geld?

Ich habe derzeit etwas zuviel Cash auf der Seite. Aber allgemein bin ich breit investiert. Aktien halte ich derzeit eher für teuer, vor allem den Technologiebereich. Die nordamerikanischen Kapitalmärkte sind sehr effizient. Alle Informationen, die man erhalten kann, sind in den Preisen abgebildet. Zum Glück habe ich hin und wieder Gelegenheit, in Firmen ehemaliger Studierender investieren zu können. Da gibt es sehr interessante Unternehmen, vor allem im Gesundheitsbereich. 

Im cash-Video-Interview äussert sich Felix Oberholzer-Gee zum Stand der Digitalisierung der Schweizer Unternehmen (deutschenglish).

Felix Oberholzer-Gee (55) ist seit 2003 Professor für Betriebswirtschaft an der Harvard Business School in Boston, Massachusetts. Er leitet dort das MBA-Programm für Führungskräfte. Zuvor unterrichtete er an der Wharton School der University of Pennsylvania. Oberholzer-Gee wuchs in Zug auf und studierte Geschichte, Sinologie und Ökonomie an der Uni Zürich. Später war er Manager in der Schweizer Firma Symo-Electronic. Ab Juni wird Oberholzer-Gee Verwaltungsrat beim Medienunternehmen Ringier.

Felix Oberholzer-Gee (rechts) von der Harvard Business School mit cash-Chefredaktor Daniel Hügli an der Ringier Management Conference in Zürich, wo das Interview stattfand.