cash.ch: Die Wirtschaft in vielen Ländern lahmt oder schrumpft bereits. Wie lautet Ihr Rezessions-Szenario für diesen Winter? 

Fritzi Köhler-Geib: Zu den Lieferkettenproblemen kommen jetzt der Energiepreis- und der Lebensmittelpreis-Schock. Die Inflation verbreitert sich. Dies in einer Zeit, in der sich Staaten und der Unternehmenssektor stärker verschuldet haben. Und dazu spitzt sich der Gegensatz USA-China zu. Eine weltweite Rezession wird es meiner Meinung nach zwar nicht geben. Aber die wirtschaftlichen Schwierigkeiten werden 'sich anfühlen wie eine globale Rezession', weil viele grosse Volkswirtschaften eine solche haben werden und die Kaufkraftverluste der Bevölkerung grösser sind als es das preisbereinigte BIP wiederspiegelt. Gerade die deutsche Wirtschaft ist relativ stark betroffen und wird nach einem enttäuschenden Wachstum in diesem Jahr 2023 voraussichtlich leicht schrumpfen.

Noch letzten Sommer las man viel düsterere Prognosen zu Deutschland, vor allem, als sich im Juni der Gaslieferstopp durch Russland abzuzeichnen begann. Was hat zu Ihrer Prognose einer milderen Rezession geführt? 

Die Sparquote geht zurück und wir haben staatliche Unterstützungsmassnahmen, die den Abwärtskräften entgegenwirken. Aber wir haben deutliche Abwärtsrisiken: Wenn wir die Indices zum Verbrauchervertrauen anschauen, sehen wir einen regelrechten Absturz. Der Konsumeinbruch könnte stärker ausfallen, als wir es voraussagen. Worüber wir in Deutschland ja häufig sprechen, ist eine mögliche Gasmangellage. Ob diese eintrifft, hängt wiederum ganz banal davon ab, wie kalt es diesen Winter werden wird. Im Falle einer solchen Gasmangellage dürfte die deutsche Wirtschaft um 2,5 Prozent schrumpfen. 

Zuletzt gab es in Deutschland - von wo aus notabene auch rund die Hälfte des Gasbedarfs der Schweiz importiert wird - optimistische Töne. Unter anderem sagte Bundeskanzler Olaf Scholz vor einigen Wochen, die Gasreserven dürften über den Winter ausreichen. Können wir uns darauf verlassen?

Es ist nach wie vor nicht ausgemacht, dass wir eine Gasmangellage verhindern können. Wir diskutieren gerade, ob die politischen Massnahmen noch in genügendem Masse Anreize zum Sparen von Gas und Strom beinhalten. Bei der Gaspreisbremse, wie sie in Deutschland angedacht ist, wird der Preis für den Basisverbrauch immer noch doppelt so hoch sein wie vor einem Jahr. Da besteht noch ein Anreiz zum Sparen. Aber die Lage bleibt schwierig.

Grosses Thema ist im Moment der sinkende Gaspreis und die sinkenden Gas-Futures. Könnte dies in Deutschland und in europäischen Ländern das schlimmste bezüglich einer Rezession verhindern? 

Der tiefere Gaspreis trägt zur Entspannung bei. Er wirkt positiv für die Kaufkraft der Haushalte. Verhindern wird ein tieferer Gaspreis die Rezession aber nicht. Dies nur schon deswegen, weil wir technisch gesehen schon in einer Rezession sind. Trotz fallender Gaspreise haben wir immer noch viel höhere Gaspreise als vor dem Ukraine-Krieg.

Sehen sie in Deutschland, dem wichtigsten Handelspartner der Schweiz, noch andere Risiken als die Energieversorgung und die Energiepreise? 

Verletzlichkeiten für die deutsche Wirtschaft sind solche, die auch andere europäische Länder betreffen. Wir sprechen von den Herausforderungen, die eine alternde Gesellschaft mit sich bringt, den Fachkräftemangel, die Mobilisierung der arbeitsfähigen Bevölkerung für den Arbeitsmarkt, die Hürden, denen Frauen im Arbeitsmarkt gegenüberstehen. Ein spezifischer auf Deutschland bezogenes Problem ist der Konflikt zwischen den USA und China: Wenn sich diese Beziehungen verschlechtern, betrifft dies deutsche Unternehmen stark. Ein strukturelles Problem ist die Transformation in Richtung der Klimaneutralität: Beim hohen Gaspreis müssen wir auch bedenken, dass Gas die entscheidende Brückentechnologie für Deutschland ist, solange es nicht eine genügend grosse Versorgung mit erneuerbaren Energien gibt.  

Sollten Deutschland oder westliche Länder generell trotz im Moment stark wachsender geopolitischer Bedenken die Beziehungen zu China aufrechterhalten oder gar vertiefen?

Wichtig ist, eine Strategie zu haben. Wir müssen die Bedeutung unterschiedlicher Partnerstärker noch im Blick haben. Gegenseitige Abhängigkeiten können von einem anderen Land eingesetzt werden - dies zeigte Russland nach dem Angriffskrieg gegen die Ukraine. Offene Volkswirtschaften müssen diversifizieren, vor allem auch bei der Rohstoffbeschaffung.

Für die unmittelbare wirtschaftliche Entwicklung bleibt natürlich auch die Geldpolitik zentral: Die EZB hat seit dem Sommer die Zinsen von Null auf 2 Prozent angehoben. Doch kamen die Zinserhöhungen dieses Jahr zu spät? 

Klar ist: Hinterher ist man immer schlauer. Die Inflation, die wir jetzt sehen, ist wegen des Ukraine-Krieges viel höher gestiegen als erwartet. Wenige bis keine Prognostiker hatten diesen Krieg vorausgesagt, als er im Februar ausbrach. Die Energiepreise sind durch den Krieg noch stärker gestiegen. Sie machen jetzt rund die Hälfte der Inflation in der Eurozone aus. Vor diesem Hintergrund muss man die Entscheidungen der EZB beurteilen. 

Hätte die EZB nach dem Kriegsausbruch schneller handeln müssen? 

Nach dem Beginn des Kriegs hat die EZB zu lange gezögert. Die Festlegung, dass das Zurückfahren der Anleihenkäufe vor den Zinserhöhungen beginnen sollte, war wohl nicht notwendig. Aber zu sagen, dass die EZB ein mit den Zinserhöhungen ein ganzes Jahr zu spät kam, berücksichtigt nicht, dass der Krieg Russlands gegen die Ukraine die Situation fundamental verändert hat. 

Die EZB hat soeben einen weiteren Zinsschritt zur Bekämpfung der Inflation unternommen. Wie weit werden die Zinsen noch steigen?

Gemäss den indizierten Zinssätzen sehen wir die Zinswende im Falle der EZB bei 3 Prozent. Die EZB muss ihr Hauptziel der Preisstabilität verteidigen und dies auch signalisieren. Andererseits aber haben wir eine schwierige wirtschaftliche Lage auf beiden Seiten des Atlantiks. Die Dosierung der Zinsschritte in der jetzigen Lage ist sehr schwierig. Die Fed wiederum wird sehr genau auf die Inflationserwartung schauen. Ich kann mir vorstellen, dass wir in einer wirtschaftlichen Abkühlung im nächsten Jahr die Fed in Richtung Zinssenkungen schwenkt. 

Notenbanken verabschieden sich von der Praxis weiterreichender Anleihenkäufe. Die Bank von England intervenierte kürzlich wieder, zwar notfallmässig, am Bondmarkt. Könnten Anleihenkäufe trotz eines Endes von quantitativen Lockerungsmassnahmen wieder vermehrt zur Anwendung kommen? 

Die Fed hat mit den Rückbau der Bilanz respektive dem Zurückfahren der Anleihenkäufe schon begonnen und dies hat eine straffende Wirkung auf die Geldpolitik. Grossbritannien würde ich gesondert einordnen. Wenn es in einer nervösen Marktlage zu einer Inkonsistenz kommt, reagieren die Märkte sofort und extrem stark. Diese Inkonsistenz gab es in Grossbritannien zwischen Geldpolitik und Fiskalpolitik: Bei hoher Inflation und in einer Zeit geldpolitischer Straffung war es natürlich schwierig, auch noch eine fiskalische Expansion anzukündigen. Dies hatte zur Folge, dass die Notenbank Anleihenkäufe als Instrument wieder einsetzte.

Werden Anleihenkäufe sogar zum Normalfall?

Anleihenkäufe sind generell ein reguläres Instrument der Geldpolitik geworden. Ich würde die Eurozone und die USA aber anders einordnen als Grossbritannien. Die EZB tätigt Anleihenkäufe weiter, wenn auch hauptsächlich in der Form von Reinvestitionen. Die Gemengelage ist komplizierter als in den USA, deswegen wird die EZB vorsichtig agieren. Ihr so genanntes Anti-Fragmentierungs-Instrument TPI, das ja weitere Anleihenkäufe ermöglicht, will die EZB am liebsten gar nicht einsetzen. 

Der 'Fiscal Monitor' des IWF sieht die Verschuldung vieler Länder, auch in Europa, als weiterhin grosses Problem. Der irische Finanzminister und Eurogruppen-Chef Paschal Donohoe sagte kürzlich, er sei sehr zuversichtlich bezüglich der Resilienz der Eurozone angesichts volatiler Märkte. Reichen all die Stabilisierungsmechanismen, die in den letzten zehn bis 15 Jahren eingeführt wurden, um neuen Krisen standzuhalten? 

Wir haben in der Eurozone eine grosse Entwicklung hin zu einer Stabilisierung gesehen. Dies ist ein extrem wichtiger Punkt. Wir haben einen ganz anderen Werkzeugkasten als vor der Finanz- und Schuldenkrise. In der Schuldenkrise konnte die EZB erstmals unter Beweis stellen, dass sie die Zentralbank aller Euroländer ist. Mario Draghi sagte sein ‘whatever it takes’ zwar spät, aber mit seinem Satz hat sich die EZB endgültig als die Zentralbank aller Euro-Länder etabliert. Heisst das, dass die EZB nun über allen Anfechtungen steht? Nein, auf keinen Fall.

Wird die heutige EZB-Präsidentin Christine Lagarde auch einmal noch eine 'Whatever-it-Takes'-Rede halten müssen? 

Mit den Instrumenten, die zur Verfügung stehen, bringt die EZB dies ja schon zum Ausdruck: Dass man alles tun wird, 'was es braucht'.

Ein weltweit wirkendes Problem der vergangenen Monate, das die Weltwirtschaft überall erfasst, ist der starke Dollar. Wird man sich damit arrangieren müssen? 

Die USA sind wirtschaftlich sehr stark aus den Pandemiejahren herausgekommen. Vom Krieg in der Ukraine sind die USA weniger stark betroffen als der Euroraum. Dazu kommt: Die Notenbank Federal Reserve (Fed) hat ihre Zinswende sehr aggressiv vorangetrieben, um die hohen Inflationsraten unter Kontrolle zu bringen. Solange diese Faktoren Bestand haben, dürfte der Dollar tendenziell stark bleiben. 

Die Schweizerische Nationalbank hat diesen Sommer den Fall des Euro-Franken-Kurses unter die Parität 'zugelassen'. Sehen Sie Faktoren, die den Aussenwert des Euro steigen lassen könnten? 

Die Europäische Zentralbank (EZB) hat sich am Anfang der Zinswende aus verschiedenen Gründen mehr Zeit gelassen. Inzwischen treibt aber auch die EZB die Zinswende schneller an - im Vergleich zu früheren Zinswenden geht es jetzt sogar sehr schnell. Deswegen dürfte auch die EZB-Politik den Aussenwert des Euro stützen. Die Konjunkturprognosen im Euroraum sind allerdings pessimistisch. Das Bild ist gemischt, aber es passt zur derzeitigen Lage. 

Fritzi Köhler-Geib ist seit 2019 Chefökonomin der KfW. Davor arbeitete sie unter anderem bei der Weltbank, dem IWF und im Finanzsektor. Frau Köhler-Geib hat an der Universität St. Gallen studiert und an der Ludwig-Maximilian-Universität in München sowie der Pompeu-Fabra-Universität in Barcelona promoviert.

Die KfW oder Kreditanstalt für Wiederaufbau ist eine 1948 gegründete Förderbank mit Sitz in Frankfurt am Main und ist heute nach Bilanzsumme die drittgrösste Bank in Deutschland.