ESG-Investoren trügen eine Mitschuld, dass es heute an praktischen Alternativen zu Kohle mangelt, sagt Michele Della Vigna, der bei Goldman die Rohstoffanalyse für Europa, den Nahen Osten und Afrika leitet. Weil Investitionen in Erdgas nicht aufrecht erhalten wurden, trugen Anleger dazu bei, dass es heute eine Versorgungslücke gibt, die mit dem klimatechnisch verhassten, weil schmutzigsten, fossilen Brennstoff ausgeglichen werden muss.

"Vor ein paar Jahren, als ich mit ESG-Investoren sprach, lag der Schwerpunkt zu sehr darauf, in was man nicht investieren sollte. Kein Öl, kein Gas, keine Kohle. Und das führte zu einem Rückgang der Investitionen", erklärte Della Vigna im Bloomberg-Interview. "Ich bin zutiefst enttäuscht, dass wir mehr Kohle verbrauchen. Das ist eine direkte Folge der unzureichenden Investitionen in Erdgas."

Die Analyse ist Teil einer hitzige Debatte über die Rolle von ESG-Investitionen und fällt mit der umstrittenen Entscheidung der EU zusammen, Gas und Atomkraft in das ESG-Regelwerk aufzunehmen. Der Krieg in der Ukraine hat die Versorgungskrise soweit zugespitzt, dass die Regierungen Energiesicherheit inzwischen Vorrang vor Klimazielen einräumen, obwohl die Zeichen einer zunehmend gefährlichen Erderwärmung unübersehbar sind.

Die Internationale Energieagentur schätzt, dass die weltweite Nachfrage nach Kohle, die etwa doppelt so viel Kohlendioxid ausstösst wie Erdgas, in diesem Jahr das Allzeithoch von 2013 erreichen und auch nächstes Jahr weiter steigen wird. Investitionen in die Öl- und Gasförderung wuchsen laut Goldman in den ersten sechs Monaten dieses Jahres um rund 15 Prozent auf 450 Milliarden Dollar, der erste Anstieg seit 2015.

"Hätten wir Erdgas früher als grünen Übergangskraftstoff gesehen, hätten wir in diesem Jahr mehr LNG zubauen können", sagte Della Vigna. "Wir hätten die Verbrennung von mehr Kohle vermeiden können."

Erneuerbare Energien: Nachfrage kann nicht gedeckt werden

Laut Daten von Goldman übersteigen Investitionen in erneuerbare Energien inzwischen diejenigen in die Förderung von Öl und Gas. Doch trotz der 500 Milliarden Dollar, die in der ersten Hälfte dieses Jahres in grüne Energien gepumpt wurden - ein Anstieg um ein Fünftel im Vergleich zum Vorjahr - reicht das noch lange nicht aus, um die Nachfrage zu decken. Steigende Energiepreise befeuern die höchste Inflationen seit Jahrzehnten. 

"Die grösste Veränderung in diesem Jahr ist, dass wir jetzt vor einer doppelten Herausforderung stehen: Dekarbonisierung und erschwingliche Energie für die breite Öffentlichkeit. In den letzten fünf Jahren haben wir uns etwas zu sehr auf die Reduzierung von Kohlenstoff konzentriert", sagte Della Vigna. 

Gleichzeitig warnen Wissenschaftler immer eindringlicher, dass uns Zeit zur Abwendung einer Klimakatastrophe davon rennt. Im April schätzte der Weltklimarat der Vereinten Nationen, dass die Erde auf einen Temperaturanstieg zusteuern könnte, der doppelt so hoch ist wie die im Pariser Klimaabkommen festgelegte Grenze. Und in einer Rede letzten Monat, in der er die anhaltende "Sucht der Menschheit nach fossilen Brennstoffen" beklagte, sagte der Generalsekretär der Vereinten Nationen, Antonio Guterres, die Welt riskiere ohne einen koordinierten Kampf gegen den Klimawandel einen "kollektiven Selbstmord". 

Della Vigna rechnet nicht mit einem Rückgang der Investitionen in erneuerbare Energien, selbst wenn mehr für Öl und Gas ausgegeben wird. Nach Schätzungen von Goldman wird Europa noch für 20 Jahre auf Erdgas angewiesen sein.

(Bloomberg)