Es dauerte genau zwei Tage, bis die Schockwelle aus Brüssel die ersten politischen Konsequenzen im fernen Skopje auslöste: In der mazedonischen Hauptstadt verkündete der prowestliche Ministerpräsident Zoran Zaev am Wochenende, er strebe nun vorgezogene Neuwahlen an.

Denn das vorläufige "Nein" zur Aufnahme von EU-Beitrittsverhandlungen mit dem Westbalkan-Land hat ihm die Grundlage für seine Politik entzogen: Die innenpolitischen Reformen, die Aussöhnung mit Griechenland und die sehr umstrittenen Änderung des Landesnamens hatte Zaev nur mit dem Hinweis auf die von der EU gesetzten Hürden durchsetzen können. Aber dann verhinderte vor allem Frankreichs Präsident Emmanuel Macron den von der EU-Kommission, Kanzlerin Angela Merkel und den anderen EU-Staaten nun bereits zum dritten Mal geforderten Startschuss.

Frankreich mag innenpolitische Gründe haben

Seither häufen sich die düsteren Warnungen von Diplomaten und Experten, dass Macron aus rein innenpolitischen Gründen den Westbalkan destabilisieren hilft - und das in einer Zeit, in der Experten vor einem immer grösseren Einfluss China, Russlands oder der Türkei auf die südosteuropäische Region warnen.

Von einem "historischen Fehler" sprachen in Brüssel übereinstimmend ein sichtlich frustrierter EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und ein eher wütender italienischer Ministerpräsident Giuseppe Conte. Das hat zwei Folgen - eine für das Verhältnis des französischen Präsidenten zu seinen EU-Partnern. Und eine für die betroffene Region, in der auch Serbien und Montenegro, Bosnien-Herzegowina und am Ende der Kosovo auf eine EU-Beitrittsperspektive hoffen.

Kanzlerin Merkel vermeidet zwar harte Kritik an ihrem engsten Partner Macron und verweist vor allem auf einen möglichen neuen Anlauf im Frühjahr 2020. Aber schon in Brüssel hatte sich auf dem Gipfel eine parteiübergreifende Anti-Macron-Stimmung breit gemacht. "Macrons Charmeoffensive in Osteuropa ist damit wohl erst einmal beendet", meinte ein EU-Diplomat mit Blick auf die Kritik vor allem der östlichen EU-Partner.

Deutsche Politiker besonders entsetzt

In Deutschland ist die Stimmungslage nicht viel besser: "Die Lage in Mazedonien ist sehr besorgniserregend. Frankreich, das uns bisher stets zu stärkerer Unterstützung auf europäischer Ebene aufgefordert hat, hat durch sein Veto der Region einen Bärendienst erwiesen", sagt der stellvertretenden CDU/CSU-Fraktionschef Johann Wadephul zu Reuters. Dabei hatte die Union im Juni selbst noch für eine Verzögerung gesorgt, weil sie erst zusätzliche Kriterien für Nordmazedonien und Albanien aufstellen wollte.

"Es ist ein empfindlicher Rückschlag für die betroffenen Länder, aber auch für eine auf Frieden und Stabilisierung gerichtete europäische Erweiterungspolitik insgesamt", kritisiert SPD-Fraktionsvize Achim Post gegenüber Reuters. "So jedenfalls verspielt Europa Vertrauen und Einfluss in der Region und darüber hinaus", meint der Grünen-Europapolitiker Manuel Sarrazin, der von einer "verantwortungslosen" französischen Erweiterungspolitik spricht, die sich rein innenpolitischen Überlegungen unterordne. Gerade die Aussicht auf eine EU-Mitgliedschaft hat sich aber schon in der Vergangenheit als grösstes Lockmittel für innenpolitische Reformen in europäischen Ländern erwiesen.

Sorgen auf dem Westbalkan

Noch gravierender aber sind die Folgen in der Region. Der nordmazedonische Ministerpräsident Zaev hofft zwar, bei Neuwahlen ein erneutes Mandat für einen Pro-EU-Kurs zu bekommen. Aber in Wahrheit setzt er seine Hoffnung nun vor allem auf einen Nato-Beitritt im Jahr 2020.

Wie besorgt auch andere über die Entwicklung sind, zeigt, dass sogar die nicht gerade EU-euphorische US-Regierung in einem Statement mahnt, die EU-Beitrittsperspektive für die Länder dürfe nicht zerstört werden. "Vor allem Putin, Erdogan, Xi Jinping und der saudische König werden die neue Unsicherheit und das politische Vakuum zu nutzen wissen und versuchen, ihre Einflusssphären weiter auszubauen", sagte Sarrazin in Anspielung auf die Aktivitäten Russlands, Chinas, der Türkei und Saudi-Arabiens in der Region.

Deren wachsenden Einfluss fürchtet auch der Südosteuropa-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Milan Nic. Die EU habe mit der Entscheidung die Fähigkeit verloren, die Entwicklung auf dem Westbalkan zu steuern. Denn jede der sechs dortigen Regierungen müsse nun damit rechnen, dass Frankreich am Ende ihren EU-Beitritt ungeachtet aller Reformen verhindere.

Serbien und Kosovo betroffen

EU-Diplomaten rechnen deshalb auch mit negativen Rückwirkungen auf Serbien und Montenegro, mit denen die EU bereits Beitrittsgespräche begonnen hat. Und es lähmt die Kompromissbereitschaft im Streit zwischen Serbien und Kosovo, weil vor allem Merkel beide Regierungen ebenfalls mit dem Hinweis auf eine mögliche spätere EU-Mitgliedschaft zu einer Verständigung bringen wollte.

SPD-Fraktionsvize Post fordert deshalb eine rasche Korrektur der Entscheidung und die Wiederherstellung des Vertrauens in die Verlässlichkeit der EU. "Gelingt dies nicht, drohen Konflikte in der Region wieder aufzubrechen und Demokratisierungsfortschritte wieder zunichte gemacht zu werden", warnt er.

Paradoxerweise spielt Macron nun auch noch dem albanischen Ministerpräsident Edi Rama in die Hände, bei dem die Reformfreudigkeit in einer schwierigen innenpolitischen Lage mit einer das Parlament boykottierenden Opposition in Tirana zuletzt nachgelassen hatte. "Er kann sich nun hinter Frankreich verstecken und sagen, dass Albanien ja bereit gewesen wäre, aber blockiert wurde", meint DGAP-Experte Nic.

(Reuters/cash)