Die Freude über den Erfolg wurde durch erste Berichte ukrainischer Behörden zu mutmasslichen Kriegsverbrechen der Besatzer getrübt. Moskau bleibt unterdessen unnachgiebig und rechtfertigte den inzwischen mehr als 200 Tage andauernden Angriffskrieg gegen das Nachbarland einmal mehr.

Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) erkennt beim russischen Präsidenten Wladimir Putin keinerlei Änderung in seiner Haltung zum Krieg gegen die Ukraine. "Leider kann ich Ihnen nicht sagen, dass dort jetzt die Einsicht gewachsen ist, dass das ein Fehler war, diesen Krieg zu beginnen", sagte Scholz am Mittwoch in Berlin mit Blick auf sein 90-minütiges Telefonat mit Putin am Vortag. "Es hat sich auch nicht angedeutet, dass dort jetzt neue Haltungen entstehen."

Der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, äusserte sich zudem vorsichtig zu den weiteren Erfolgsaussichten der Ukrainer. Er sehe allenfalls "Gegenstösse, mit denen man Orte oder einzelne Frontabschnitte zurückgewinnen, aber nicht Russland auf breiter Front zurückdrängen kann", sagte Zorn dem "Focus" (Samstag). Zur weiteren Unterstützung der Ukraine wollte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in das von Russland angegriffene Land reisen und sich dort mit Selenskyj treffen.

Gewisse Kontaktaufnahme von russischer Seite

Die ukrainische Vize-Regierungschefin Olha Stefanischyna sagte dem französischen Sender France24, es habe zuletzt von russischer Seite gewisse Kontaktaufnahmen gegeben. Zugleich schränkte sie ein: "Wir sollten nicht nur über die Verhandlungen sprechen, sondern auch den Zweck dieser Kontaktaufnahmen Russlands." Möglicherweise wolle Russland mit solchen Vorschlägen nur ablenken, meinte sie. "Wir werden bereit sein zu Verhandlungen, wenn der Augenblick für die Ukraine passend ist."

Scholz: Keine Alleingänge bei Waffenlieferungen an Ukraine

Der Bundeskanzler sagte weiter zu seinem Telefonat mit Putin, es sei trotz allem richtig, mit dem Kremlchef zu sprechen. Er sei überzeugt davon, dass Russland seine Truppen zurückziehen müsse, damit Frieden eine Chance in der Region habe. Scholz hatte am Dienstag zum ersten Mal seit dreieinhalb Monaten wieder mit Putin telefoniert. Alleingänge bei Waffenlieferungen an die Ukraine schloss Scholz am Mittwoch bei einer Pressekonferenz in Georgien unterdessen erneut aus.

UN: Chance auf Ukraine-Verhandlungen "minimal"

Auch UN-Generalsekretär António Guterres äusserte sich nach einem Telefonat mit Putin ernüchtert. "Es wäre naiv zu glauben, dass wir der Möglichkeit eines Friedensabkommens nahe sind", sagte Guterres in New York. Zwar seien die Vereinten Nationen bereit, in jeglicher Hinsicht an einer diplomatischen Lösung zu arbeiten, die Chancen dafür seien gegenwärtig aber "minimal".

Kreml: Sicherheitsgarantien für Ukraine sind Gefahr für Russland

Der Kreml bezeichnete ein von der Ukraine vorgelegtes Konzept für Sicherheitsgarantien am Mittwoch als Gefahr für Russland. Die Ukraine strebe weiter eine Nato-Mitgliedschaft an, sagte Kremlsprecher Dmitri Peskow der Nachrichtenagentur Interfax zufolge. "Dementsprechend bleibt auch die grösste Gefahr für unser Land bestehen und damit bleibt auch der Grund für die Notwendigkeit der militärischen Spezialoperation aktuell, ja er wird sogar noch aktueller", sagte der 54-Jährige. Russlands Position zu dem Konzept sei "negativ".

Kiew hatte am Dienstag ein Konzept für die Zeit nach dem Ende des Krieges vorgelegt. Dabei soll unter anderem eine Gruppe von Ländern politisch und rechtlich die Sicherheit der Ukraine garantieren.

Von der Leyen: Ukraine wieder aufbauen, Sanktionen beibehalten

EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen will bei ihrer Reise nach Kiew auch darauf hinarbeiten, dass die Ukraine einen Zugang zum europäischen Binnenmarkt bekommt. Sie versprach der Ukraine bei einer Rede im Europaparlament in Strassburg zudem 100 Millionen Euro zum Wiederaufbau zerstörter Schulen. Die Angriffe Russlands hätten mehr als 70 Schulen in der Ukraine zerstört.

Mit einer Aufhebung der EU-Sanktionen rechnete von der Leyen nicht auf absehbare Zeit. "Ich möchte keinen Zweifel daran lassen, dass die Sanktionen von Dauer sein werden", sagte sie. Moskau trage die Verantwortung dafür, dass die russische Wirtschaft den Anschluss verliere. Der Krieg sei nicht nur gegen die Ukraine gerichtet, betonte sie. "Das ist ein Krieg gegen unsere Energieversorgung, ein Krieg gegen unsere Wirtschaft, ein Krieg gegen unsere Werte und ein Krieg gegen unsere Zukunft."

Generalinspekteur zweifelt an Kraft der Ukrainer für Gegenoffensive

Die ukrainische Armee agiere "klug, bietet selten eine Breitseite und führt souverän und sehr beweglich die Operationen", sagte Bundeswehr-Generalinspekteur Zorn. Noch vor zwei Wochen hätte er gesagt, dass der gesamte Donbass in sechs Monaten in russischer Hand sein werde. "Heute sage ich: Das werden sie nicht schaffen." Aber ob die Ukrainer wirklich die Kraft für eine Gegenoffensive hätten, bezweifelt der ranghöchste Soldat der Bundeswehr: "Sie bräuchten eine Überlegenheit von mindestens 3 zu 1." Zorn verteidigte zudem die bisherigen deutschen Waffenlieferungen und bezeichnete die Liste als "beachtlich".

Geld- und Haftstrafen für ukrainisches "Kampflied" auf der Krim

Auf der von Russland annektierten ukrainischen Halbinsel Krim verhängte ein Gericht unterdessen Haftstrafen wegen eines ukrainischen Liedes. Das Gericht in der Stadt Bachtschissarai ordnete für sechs "Organisatoren und Teilnehmer der Hochzeit" Haftstrafen zwischen 5 und 15 Tagen sowie Ordnungsstrafen von umgerechnet mehr als 800 Euro an, wie örtliche Medien am Mittwoch berichteten. Das Lied wurde in den Berichten als "Kampflied ukrainischer Nationalisten" bezeichnet.

Ein Video zeigt, wie die Hochzeitsgäste ausgelassen zu einem patriotischen Lied tanzten, das zum Symbol des ukrainischen Widerstands gegen den russischen Einmarsch vom Februar wurde. Als rechtliche Grundlage dienten dem Gericht Paragrafen zum Verbot "nazistischer Symbolik" und das Verbot zur Diskreditierung der russischen Streitkräfte. Der Besitzer des Restaurants distanzierte sich später in einem Video von dem Vorfall.

Die ukrainische Schwarzmeerhalbinsel Krim war im Frühjahr 2014 nach dem prowestlichen Umsturz in Kiew von Russland annektiert worden. Die Rückholung der Halbinsel auch mit militärischen Mitteln ist eines der erklärten Ziele der Führung in Kiew./ast/DP/jha

(AWP)