Neu rechnet die Expertengruppe des Bundes im laufenden Jahr 2022 mit einem Wachstum des realen Bruttoinlandproduktes (BIP) von nur noch 2,1 Prozent, wie das Staatssekretariat für Wirtschaft (Seco) am Dienstag mitteilte. Vor drei Monaten hatte die Prognose noch auf 2,8 Prozent gelautet. Für 2023 wird nun ein BIP-Wachstum von 0,8 statt 1,6 Prozent vorausgesagt.

"Das Risiko einer verschlechterten Energieversorgung hat sich manifestiert", begründete Eric Scheidegger, Leiter der Seco-Direktion für Wirtschaftspolitik, die tiefere Prognose an einer Telefonkonferenz. Er verwies dabei auf die ausbleibenden Gas-Lieferungen aus Russland und die gestiegenen Preise für Strom und Gas.

Er geht davon aus, dass die Preise für Strom und Gas noch einige Zeit über dem Niveau von 2019 oder 2020 bleiben werden. In der Folge seien die Erwartungen für die Weltnachfrage deutlich gesenkt worden, was die Schweizer Exportwirtschaft spüren werde.

Inflation höher gesehen

Eine Stütze bleibt vorderhand der Konsum, wie es im Communiqué weiter hiess. Denn die Teuerung in der Schweiz bewege sich weiterhin auf einem verhältnismässig moderaten Niveau und der Arbeitsmarkt sei in einer guten Verfassung.

Gleichwohl hat die Expertengruppe die Prognose für die Inflation deutlich angehoben. Die Jahresteuerung 2022 wird nun bei 3,0 statt 2,5 Prozent gesehen, jene im Jahr 2023 bei 2,3 statt 1,4 Prozent. Es sei mit dämpfenden Effekten auf die Binnennachfrage zu rechnen, wurde betont.

Die sich abzeichnenden Zinserhöhungen der Schweizerischen Nationalbank hält das Seco trotzdem mittelfristig für wirksam, wie Konjunkturchefin Felicitas Kemeny sagte. Diese stabilisierten die Inflation.

Auch für den Arbeitsmarkt geht die Expertengruppe von einer moderaten Verschlechterung aus. Sie erwartet für 2022 nun eine Arbeitslosenquote von 2,2 Prozent (bisher: 2,1 Prozent) und für 2023 von 2,3 Prozent (bisher: 2,0 Prozent). Ab dem vierten Quartal sei mit einer allmählich steigender Arbeitslosigkeit zu rechnen, so die Seco-Experten. Insgesamt sei der Arbeitsmarkt aber noch immer "sehr solide", so Scheidegger.

Rezessionsgefahr vorhanden

Er betonte allerdings die "extreme Unsicherheit" bei all diesen Prognosen. Sie gingen davon aus, dass es in Europa und der Schweiz nicht zu Rationierungen von Energie komme.

In einem solchen Fall könnte es denn auch viel schlimmer kommen, räumte Scheidegger ein. In einem Negativszenario würde die Schweizer Wirtschaft im nächsten Jahr um 0,8 Prozent schrumpfen (sportevent-bereinigtes BIP) und die Teuerung auf über 4 Prozent steigen. Es käme dann im Winter zu einer Rezession.

Und das Risiko eines solchen Energiemangels in Europa sei angesichts der stark zurückgegangenen Gaslieferungen aus Russland und der eingeschränkten Verfügbarkeit französischer Atomkraftwerke gestiegen. Ein besonders kalter Winter oder Ausfälle von AKWs in der Schweiz oder Deutschland könnten eine Rezession auslösen, so Scheidegger.

Ein schwacher Trost ist, dass sich selbst in einem solchen Negativszenario der Schaden im internationalen Vergleich in Grenzen halten würde. "Das hat damit zu tun, dass wir in der Schweiz für eine BIP-Einheit nur halb so viel Energie brauche wie im Durchschnitt aller OECD-Länder", so Scheidegger.

Unwahrscheinliches Positivszenario

Doch es gibt laut dem Seco auch Hoffnung. In einem "nicht sehr wahrscheinlichen Positivszenario", in dem sich die Energiesituation entspanne, die Geldpolitik weniger restriktiv werde und sich der Konsum weiter von Corona erhole, sei mit einer Wachstumsrate von um die 2 Prozent im nächsten Jahr zu rechnen.

Auslöser für ein solches Szenario könnte laut Scheidegger sein, dass sich die Wirtschaft schneller als erwartet an die Energieproblematik anpasse.

(AWP)