Johnsons Nachfolgerin Truss hatte am Donnerstag nach sechs beispiellos chaotischen Wochen im Amt ihren Rücktritt angekündigt und schickt sich damit an, die britische Premierministerin mit der kürzesten Amtszeit aller Zeiten zu werden. Ihr radikales Steuersenkungsprogramm hatte mangels solider Gegenfinanzierung die Finanzmärkte ins Chaos gestürzt. Als dann auch noch ihr Kabinett zusammenbrach und sich bei einer Abstimmung im Unterhaus tumultartige Szenen abspielten, war ihr Schicksal besiegelt.
Nicht einmal zwei Monate nach der Kür von Truss stehen die regierenden Tories also erneut vor der Frage: Wer führt uns als nächstes an? Als aussichtsreiche Kandidaten gelten der frühere Finanzminister Rishi Sunak sowie Penny Mordaunt, die Ministerin für Parlamentsfragen - wobei am Freitag zunächst kein einziger Tory offiziell eine Kandidatur bekanntgab.
Die Hürden für eine erfolgreiche Kandidatur sind hoch: Um ins Rennen zu gehen, brauchen Kandidaten den Rückhalt von mindestens 100 Abgeordneten. Bis Montagnachmittag können Nominierungen eingehen. Nehmen mehr als zwei Kandidaten diese Hürde, soll bei Abstimmungen in der Fraktion danach ausgesiebt werden. Gibt es danach noch zwei Finalisten, kann die Parteibasis im Laufe der Woche in einem Online-Votum abstimmen. Die Entscheidung könnte auch schon früher fallen, falls sich einer der beiden Finalisten freiwillig zurückzieht. Spätestens am Freitag nächster Woche soll ein neuer Regierungschef oder eine -chefin gewählt sein.
Die Opposition fordert lautstark eine sofortige Neuwahl - doch die regierende Tory-Partei sitzt am längeren Hebel und kann den Zeitpunkt für die nächste Wahl - bis spätestens Anfang 2025 - relativ frei festlegen. Glaubt man aktuellen Umfragen, droht den Tories bei einer Neuwahl ein niederschmetterndes Ergebnis. In einer am Donnerstag durchgeführten Befragung des Marktforschungsinstituts PeoplePolling wollten nur noch 14 Prozent der Briten die Tories wählen, damit lag die Partei fast 40 Prozentpunkte hinter Labour.
Die einzige Chance, das Ruder herumzureissen und die Partei aus ihrer katastrophalen Lage zu befreien, sehen seine Anhänger in Boris Johnson. Dieser soll Berichten zufolge Interesse an einer Kandidatur haben und seinen Urlaub in der Karibik vorzeitig abgebrochen haben. Als begnadeter Wahlkämpfer holte der Ex-Premier 2019 seiner Partei eine überwältigende Mehrheit im Unterhaus. Mit seiner kumpelhaften Art und einem Schenkelklopfer an jeder Ecke konnte Johnson damals auch in Regionen und Schichten überzeugen, die nicht zur traditionellen Tory-Wählerschaft zählen. Ob diese Masche jedoch nach all seinen Skandalen und Fehlern noch zieht, ist umstritten.
Wirtschaftsminister Jacob Rees-Mogg, der sich als erstes Kabinettsmitglied für eine Rückkehr Johnsons aussprach, flankierte seinen Unterstützer-Tweet mit dem Hashtag #BORISorBUST (zu Deutsch etwa: Boris oder kaputtgehen). Auch Verteidigungsminister Ben Wallace, der eine eigene Kandidatur am Freitag ausschloss, neigt dazu, Johnson zu unterstützen.
Parallel läuft unter Hochdruck die Operation "Stop Boris". Der Tory-Abgeordnete Crispin Blunt sagte dem Sender Sky News, Johnson sei nicht der Typ, um das Image der Partei wiederherzustellen. Sein Parteikollege Roger Gale kündigte an, er werde aus der Partei austreten, wenn Johnson wieder in die Downing Street einziehe. Dem Portal "Politico" zufolge droht noch eine Reihe weiterer konservativer Abgeordneter, im Fall einer Ära Johnson 2.0 dem Premier die Gefolgschaft zu verweigern oder gar die Partei zu verlassen. "Ich werde Boris mit allen Mitteln stoppen", sagte ein Abgeordneter, der namentlich nicht in dem Bericht auftauchen wollte. "Wenn er gewinnt, bedeutet das das Ende der konservativen Partei."
Wer sich hinter Johnson stellt, geht ein enormes Risiko ein: Denn immer noch läuft eine Untersuchung im Parlament, die klären soll, ob Johnson im Zusammenhang mit der "Partygate"-Affäre über verbotene Lockdown-Feiern in der Downing Street das Parlament angelogen hat, was ein K.o.-Kriterium im Regierungsamt wäre. Bis die Untersuchung abgeschlossen ist, könnten Wochen oder gar Monate vergehen. Die Labour-Politikerin Rachel Reeves warnte, die Regierungsgebäude in der Downing Street seien keine "Airbnbs für kurze Aufenthalte, in denen man ein paar Monate verbringen und viel Schaden anrichten kann, bevor man an den nächsten übergibt"./swe/DP/ngu
(AWP)