Herr El-Erian, Sie prägten vor zehn Jahren den Begriff «New Normal» für die Zeit mit niedrigen Zinsen und niedrigem Wachstum. Erwarteten Sie, dass die neue Normalität so lange andauert?

Mohamed El-Erian: Mir war klar, dass der Zustand anhält, bis die Politik reagiert – oder bis das neue Normal von allein zu einer anderen Konsequenz führt. Meine Hoffnung ist noch immer, dass die Politik aufwacht und ein viel höheres und breiter verteiltes Wachstum auslöst. Sonst bricht die neue Normalität unter ihren eigenen Auswirkungen zusammen.

Wir erleben gerade den Zusammenbruch?

Das hängt davon ab, wo Sie hinschauen. In Europa ist die Sorge berechtigt, dass wir auf einen Zusammenbruch zusteuern. Die USA dagegen sind eine andere Geschichte. Ob man die Politik gutheisst oder nicht, Deregulierungen und die Steuersenkung haben die Wirtschaft angekurbelt, zumindest kurzfristig. Deshalb erreichen die USA für mindestens ein weiteres Jahr mehr als 2,5 Prozent Wirtschaftswachstum. Das Risiko ist eine selbst verschuldete Wunde. Im vierten Quartal 2018 erlebten wir gleich zwei: Die Misskommunikation der US-Notenbank und der 35-tägige Shutdown der Bundesverwaltung. Aber die US-Wirtschaft erweist sich bislang als sehr robust.

Die inverse Zinsstrukturkurve in den USA, sonst ein Warnzeichen für eine anstehende Rezession, beunruhigt Sie nicht?

Sie ist von den Ereignissen in Europa mitbestimmt. Obwohl die US-Zinsen gestiegen sind, werden sie zurückgehalten durch Europa, weil so viel Geld auf der Suche nach höheren Zinsen in die USA kommt. Zum ersten Mal in mehr als einer Dekade erleben wir vier Quartale in Folge eine Dollar-Stärke.

Viele monierten, dass Trumps Initiative zur falschen Zeit kam, als die Wirtschaft auch ohne Staatsgeschenke ganz gut lief.

Die Massnahmen waren wichtig, damit die US-Notenbank Federal Reserve Fortschritte bei der Normalisierung ihrer Politik machen konnte. Ohne das zusätzliche Wachstum wäre es der Fed schwergefallen, die Zinsen zu erhöhen und ihre Bilanzsumme zurückzuführen. Die EZB dagegen musste schon wieder einen Rückzieher machen – das zeigt, wie wichtig Wachstum für eine Normalisierung der Notenbankpolitik ist. Unkonventionelle Geldpolitik wie negative Zinssätze oder Ankauf von Staatspapieren kauft Zeit. Aber sie löst die tiefer liegenden Probleme nicht.

Aber Sie halten Europa für die grössere Gefahr für die globale Wirtschaft?

Europa ist wie ein Fussballteam mit fünf entscheidenden Spielern – doch jeder hat grosse Probleme. Deutschland ist in einem politischen Umbruch, Frankreichs Reformen sind durch die Gelbwesten zum Stillstand gekommen, Grossbritannien hat den Brexit, in Spanien herrscht Unklarheit und in Italien versucht eine neue Regierung, ihren Weg zu finden. In einem Fussballteam gibt es noch immer Teamwork. Aber in der EU und Euro-Zone ist auch die Mannschaftsarbeit mangelhaft. Die EZB rechnet mit 1,3 Prozent Wachstum. Ich fürchte, wir werden unterhalb von 1 Prozent landen. Europa nähert sich dem Stillstand kurz vor dem Absturz. Als erstes trifft es Länder und Branchen mit hoher Verschuldung.

Was ist das grösste Problem?

In Europa gibt es ein System von Finanzintermediären, Versicherungen, das nicht gut unter negativen Zinsen operiert. Es ist schwierig, bei negativen Zinsen eine Versicherung anzubieten. Das führt zur Japanifizierung der Gesellschaft. Der private Sektor fängt an, sich selbst zu versichern. Die Menschen bilden immer mehr Rücklagen, weil sie sich auf das System nicht mehr verlassen können. Paradoxerweise sorgt der Fakt, dass sie auf ihre Ersparnisse keine Zinsen verdienen, dafür, dass sie umso mehr sparen.

Was kann man tun?

Das ist kein Ingenieursproblem – fast jeder Ökonom würde meinem Vorschlag hier zustimmen. Wir müssen die schleppende Produktivität durch Massnahmen auf der Angebotsseite verbessern. Da, wo fiskalisch Platz ist, etwa bei Deutschland und den Niederlanden, müssen die Staatsausgaben erhöht werden. Man muss zudem die Architektur der Euro-Zone zu Ende bringen. Die Euro-Zone wurde als Stuhl mit vier Beinen gestaltet, operiert aber nur auf eineinhalb Beinen. Das volle Bein der monetären Union und das halbe Bein der Bankenunion – fiskalische und politische Integration fehlen ganz, deshalb fehlt die Stabilität. Die schwierigste Aufgabe ist aber einzusehen, dass eine Schuldenreduzierung die einzige Lösung ist für Griechenland oder für die Studienkredite in den USA.

Sie haben Ihr Geld schon seit drei Jahren in Cash?

Ich denke über mein Portfolio in drei Schichten nach. Zuunterst ist die langfristige, strategische Schicht. Darüber strukturelle Trades – wenn man fehlgepreiste Assets ausnutzt. Die oberste Schicht sind taktische, kurzfristige Trades, etwa wenn wie aktuell Liquidität die Märkte treibt. Da ergeben sich grosse Schwankungen, die man ausnutzen kann. Die unteren beiden Schichten des Portfolios sind erodiert durch die lang anhaltenden unkonventionellen Massnahmen der Notenbanken. Die Liquiditätsprämie für langfristige Anleger ist zusammengebrochen. Liquidität ist so frei zugänglich, dass ihr niemand mehr Wert beimisst.

Also halten Sie alles in Cash?

Ich habe sowohl mein Aktienrisiko wie auch mein Durationsrisiko reduziert. Das heisst, dass ich nur noch Laufzeiten unterhalb von fünf Jahren besitze. Das kommt in meinem Sprachgebrauch Cash sehr nahe.

Sie sind berühmt dafür, gerade in Emerging Markets unglaubliche Gelegenheiten vor anderen Anlegern zu sehen. Gibt es aktuell solche Chancen?

Wer heute Geld verdienen will, muss die Bilanz wichtiger nehmen als den Ertrag. Das heisst, nicht unbedingt in hochqualitative Namen zu gehen. Ich suche nach einer Bilanz, die der Markt falsch preist. Zum Beispiel die Ukraine. Viele stufen das Land als hochriskant ein, und das ist es auch. Aber es gibt aktuell ein Zeitfenster, das von einer widerstandsfähigen Bilanz geprägt ist. Für die kommenden zwölf Monate sind die Reserven der Ukraine im Vergleich zu ihren Verpflichtungen sehr adäquat. Mein zweites Thema ist: Vorsicht bei passiven Produkten!

Was? Die werden doch immer beliebter.

Eine gute Idee, die zu weit getrieben wurde – wie zum Beispiel auch Bitcoin. Die Finanzindustrie hat diese Produkte inzwischen auch für von Haus aus illiquide Assets eingeführt – etwa für Unternehmen in Emerging Markets oder Teile des Hochzinsmarktes. Das ist nicht weise – auch wenn derzeit Liquidität da sein mag. Zum Beispiel schnellte vor einem Jahr die Volatilität hoch. Da ging das ETF «Short Volatility», eine Wette auf geringe Volatilität, in wenigen Tagen von 100 auf Null. Die «passive Revolution» darf man nicht zu weit führen. Gerade aktuell sind Sorgen um die Liquidität angemessen.

Sie erwarten einen Rückschlag?

Ein Sell-off würde mich nicht überraschen. Aber in einem niedrigeren Markt liegt ja nicht nur ein Risiko, sondern auch eine Chance. Eine sehr alte Markt-Hypothese aus den 1970er Jahren hat ihren Autoren den Nobelpreis eingebracht – das Papier heisst «The Market for Lemons» – es ging um Gebrauchtwagen…

… von George A. Akerlof, dem Ehemann der ehemaligen Notenbank-Chefin Janet Yellen.

In einem Markt, wo manche das Tacho manipulieren oder einen Unfall vertuschen, lässt sich auch ein redlich angebotener Gebrauchtwagen nur mit einem Preisabschlag verkaufen. Ein Liquiditätsschock an den Märkten wirkt ähnlich – sowohl gute wie schlechte Werte gehen runter. Deshalb die Chance, Qualität günstiger zu kaufen. Ich achte dabei bei Firmen wie bei Ländern auf drei Charakteristika: Eine widerstandsfähige Bilanz, gutes Generieren von Cashflow und gutes Management. Das lohnt sich im Laufe der Zeit – insbesondere aber nach einem Sell-off.

Haben Sie Beispiele für solche Werte?

Technologieunternehmen zum Beispiel. Die haben robuste Bilanzen, generieren viel Cash und sind gut gemanagt. Auch manche asiatischen Länder werden grundsätzlich hart getroffen bei einem Rückschlag an den Märkten – sie können einfach nicht signalisieren, dass sie besser sind als der Rest. Marktpreise entstehen an der Kreuzung von ökonomischen Fundamentaldaten, politischen Entscheidungen und Markt-Technikalitäten. Wer nur auf einen oder zwei dieser Kreise schaut, verpasst etwas Entscheidendes. Die besten Investmentfirmen erkennt man daran, dass sie Teams zusammenstellen, die alle drei Bereiche abdecken.

Sie machen sich Sorgen um die wachsende Ungleichheit in der Gesellschaft.

Die Menschen fühlen sich nicht mehr wohl mit dem Niveau, auf das die Ungleichheit im Einkommen und im Vermögen gestiegen ist. Noch problematischer ist das Gefühl, dass nicht alle Menschen die gleichen Chancen erhalten. In den USA glaubt man an Anreize. Nur wenige haben Probleme mit Mark Zuckerberg, der von seinem Studentenwohnheim aus Facebook gründete und Milliardär ist. Aber wenn Zentralbanken Vermögenswerte hochdrücken, die den Reichen gehören, dann vermittelt das die Wahrnehmung, dass die Zentralbankpolitik nur den Reichen dient. Es gibt einen Grund, warum Bernie Sanders aus dem Nichts Hillary Clinton ernsthaft herausfordern konnte. Und warum mit Donald Trump eine Anti-Establishment-Person Präsident wurde. Und warum eine Gruppe von neuen Politikern ins Capitol gewählt wurde, die sich demokratische Sozialisten nennen. Eine Menge Menschen denkt, dass die Privatwirtschaft zu weit gegangen ist und dass die Regierung mehr in Sachen Umverteilung tun muss. Man kann kein gutes Haus in einer schlechten Nachbarschaft haben. Man muss sich um die Nachbarschaft kümmern.

Erwarten Sie, dass 2020 jemand gewählt wird, der sich für höhere Steuern ausspricht?

Ich befürchte, dass sich in den nächsten paar Jahren etwas abspielen wird, was noch die wenigsten Leute erkennen – sei es ökonomisch, politisch oder sozial: Das Zentrum wird immer weiter ausgehöhlt. Die Mittelklasse ist unter enormen Druck. In der Politik werden die Parteien des Zentrums immer unbedeutender. Und bei Unternehmen sind es die mittelgrossen, die es kaum noch gibt. Aber das Zentrum macht eine Gesellschaft stabil. Ohne Mitte fehlt einer Gesellschaft der Anker.

Sie sagten einmal, Sie hofften auf einen Sputnik-Moment.

Es muss etwas geschehen, das alle aufweckt. Die Verhaltenslehre zeigt, wie wir Menschen gestrickt sind. Wenn wir etwas Unangenehmem gegenüberstehen, gibt es vier mögliche Verhaltensmuster – und drei davon sind problematisch: Verleugnung, Umdeutung und aktive Trägheit – Letzteres ist der amerikanische Tourist in der Schweiz, der einen Passanten auf englisch anspricht und keine Antwort erhält. Dann wiederholt er die Frage, nur lauter. Er verändert etwas, aber nicht das Richtige. Wir müssen bescheiden sein und verstehen, wie schwierig es für die Menschheit ist, komplexe Probleme anzupacken.

Das hört sich nicht optimistisch an.

Das Undenkbare wird zur Realität. Und zwar momentan mit viel höherer Frequenz, als es Menschen angenehm ist. Das System sagt uns etwas. Und wir müssen viel offener sein, um es zu verstehen.

Dieses Interview erschien zuerst in der "Handelszeitung".