cash: Herr Lutz, bis zu den eidgenössischen Wahlen am 18. Oktober sind es nun noch knapp zwei Monate. Wie vorangeschritten ist der Wahlkampf?

Georg Lutz: Inzwischen hat sicherlich die Endphase begonnen, wo man einerseits eine Intensivierung der Parteikampagnen sieht und parallel jetzt noch die individuellen Kampagnen der Kandidaten kommen werden.

Was sind derzeit die brennendsten Themen aus Wählersicht?

Das Topthema ist die Asylpolitik. Diese steht zurzeit noch mehr im Fokus als bei den letzten Wahlen vor vier Jahren. Damals war zum ersten Mal überhaupt das Thema Wirtschaft in der Endphase des Abstimmungskampfes unter den wichtigsten Themen. Die europäische Wirtschaftskrise und die damit verbundene Frankenaufwertung wurden von den Wählerinnen und Wählern damals stark wahrgenommen. Das ist dieses Jahr nicht der Fall.

Es scheint, als ob die SVP mit dem Thema 'Asylchaos' den Wahlkampf dominieren würde. Teilen Sie diesen Eindruck?

Bis jetzt ist es der SVP tatsächlich gelungen, dieses Thema nicht nur weit oben auf die politische Agenda zu bringen, sondern dem Ganzen auch eine andere Schlagseite zu geben. Als im Frühling die ersten grossen Flüchtlingswellen in Europa eintrafen, gab es innerhalb der Bevölkerung eine grosse Solidaritätswelle. Inzwischen ist das Thema von einem ganz anderen Aspekt her in der Öffentlichkeit bestimmend, und zwar primär als Problem und Asylchaos. Das ist sicherlich eine Folge der SVP-Wahlkampfkampagne.

Wirtschaftsthemen wie der starke Franken oder die Zukunft des Finanzplatzes Schweiz scheinen hingegen kein Wahlkampfthema zu sein. Sind solche Themen nicht brennend genug?

Es ist wahrscheinlich eine Kombination aus unterschiedlichen Aspekten. Einerseits geht es der Schweiz ja relativ gut. Nach der Mindestkursaufhebung und dem sich stärkenden Franken gab es grosse Debatten über das mögliche Ende des Industriestandortes Schweiz. Und  jetzt merkt man, dass die Auswirkungen kurzfristig gar nicht so schlimm sind. Wir haben zwar eine Verlangsamung im Wirtschaftswachstum, aber keinen massiven Konjunktureinbruch und keinen sprunghaften Anstieg der Arbeitslosigkeit. Entsprechend ist das Thema nicht so stark im Bewusstsein der Bevölkerung. Hinzu kommt, dass die Partei, die sich in der Wahrnehmung der Wähler am stärksten darum kümmert, nämlich die FDP, auch nicht offensiv neue Lösungsansätze aufzeigte.

Wieso nicht?

Die Rezepte, die man kurzfristig bringen könnte gegen den starken Franken, widersprechen dem Gedankengut der FDP. Es wäre widersprüchlich, von einer Partei, die Deregulierungen und Liberalisierungen will, mehr Regulierung oder grössere Subventionen in gewissen Bereichen zu fordern. Deshalb kamen von der FDP nach meiner Wahrnehmung keine konkreten Lösungen zu dieser Problematik, das ganze blieb relativ abstrakt. Die einzige konkrete Forderung kommt von linker Seite mit der Festsetzung eines neuen Mindestkurses. Und das ist natürlich etwas, was die FDP nicht möchte. 

Es gab wegen des starken Frankens Entlassungen, längere Arbeitszeiten und sogar Firmenkonkurse. Berührt das die Wähler nicht?

Natürlich berührt das die Leute. Aber so Meldungen gibt es immer, nicht nur jetzt. In der Vergangenheit gab es Phasen, wo grössere Entlassungswellen angestanden sind. Umgekehrt haben wir derzeit auch eine Debatte über die Masseneinwanderung und den Fachkräftemangel. Geht eine Firma Pleite und werden Arbeitsplätze abgebaut, erhöht sich nicht automatisch die Arbeitslosigkeit. Eine Verknüpfung ist hier nicht so leicht.

Sehen Wähler bei einer schlechten wirtschaftlichen Entwicklung die Regierung als Schuldigen?

Die Grundtheorie des ökonomischen Wählens besagt, und dafür gibt es durchaus Belege aus der Praxis, dass bei schlechten Wirtschaftszahlen die Hoffnung auf eine neue Regierung gesetzt, beziehungsweise die bisherige Regierung abgestraft wird. Dies unabhängig davon, ob die Regierung an der Misere Schuld hat oder nicht. Eine Grundvoraussetzung dafür ist in der Schweiz so schon gar nicht gegeben, da alle Parteien in die Regierung eingebunden sind.

Wie läuft es dann in der Schweiz ab?

Die Frage nach dem Schuldigen ist bei uns nicht so einfach. Bei Kampagnen müssen Schuldige konstruiert werden, um dann den Wählern glaubhaft sagen zu können: 'Wenn unsere Partei jetzt ein bisschen mehr in der Regierung vertreten ist, dann wird es ein bisschen besser'. Das ist in einer Kampagne nicht einfach zu übermitteln.

Gemeinhin gilt die FDP als Wirtschaftspartei. Interessieren sich andere Parteien nicht für Wirtschaftsthemen?

Die anderen Parteien würden wirtschaftsnahe Themen theoretisch auch sehr gerne abdecken, aber es gelingt ihnen einfach nur sehr schlecht. Fragt man Wähler, welche Partei sich am meisten mit Wirtschaftsthemen befasst und dort am kompetentesten ist, dann fällt mit grossem Abstand am häufigsten der Name FDP. Bei den Wählern kommt es zu einer extrem starken Zuschreibung einzelner Themen zu einzelnen Parteien. Das macht es für Parteien schwierig, sich in neuen Themenfeldern festzusetzen. Dieser Prozess dauert viele Jahre. Man müsste konsequent auf ein Thema setzen und dieses beackern. Das birgt aber auch grosse Risiken. Würde sich zum Beispiel die CVP plötzlich dem Thema Wirtschaft widmen, dann bestünde die Gefahr, dass sich Wähler, die die CVP als Familien-Partei wahrnehmen, plötzlich abwenden.

Sehen Sie die SVP ebenfalls als Wirtschaftspartei?

Als 2003 Christoph Blocher und Hans-Rudolf Merz neu in den Bundesrat gewählt wurden, gab es eine kurze Phase mit zwei SVP- und zwei FDP-Bundesräten. Damals wurde die SVP als sehr wirtschaftsliberale Partei wahrgenommen. Aus Wirtschaftskreisen führte dies zu einer Euphorie-Stimmung. Diese Euphorie gegenüber der SVP flachte inzwischen aufgrund der Masseneinwanderungsinitiative sicherlich wesentlich ab. Diese Initiative erschwert es einerseits der Wirtschaft Arbeitskräfte aus dem Ausland zu rekrutieren und andererseits wird der bilaterale Weg infrage stellt. Dies löste bei einigen Leuten aus der Wirtschaft, die eine gewisse Sympathie zur SVP hegten, Irritationen aus.

Die FDP gilt gemäss ersten Hochrechnungen als Gewinnerin der kommenden Wahlen. Was sind die Gründe?

Die FDP ist gut im Rennen. Eine der Ursachen ist, dass sich die FDP wieder als die führende Wirtschaftspartei positionieren konnte, weil die SVP mit den Wirtschaftsverbänden wiederholt auf Konfrontationskurs war. Aber ich sehe keinen Aufschwung der FDP, sondern allenfalls eine leichte Erholung, sollte sie denn an den Wahlen tatsächlich zulegen können. Die Partei fiel von 24 Prozent Wähleranteil Ende der 1970er Jahre auf aktuell 15 Prozent. Und diese 15 Prozent konnten auch nur gehalten werden, da man 2009 durch die Fusion mit der Liberalen Partei der Schweiz zusätzliche Wähler dazuzählen konnte. Aber was Parteipräsident Philipp Müller gelungen ist, ist einerseits die klare Positionierung rechts von der Mitte und andererseits nicht als Juniorpartnerin der SVP wahrgenommen zu werden.

Wie lautet Ihre Prognose für den Ausgang der Wahlen im Oktober?

Vor vier Jahren kam es zu relativ hohen Verschiebungen, was mit den beiden neuen Parteien BDP und der GLP zu tun hatte, die insgesamt etwa 10 Prozent Wähleranteil für sich beanspruchen konnten. Für diesen Herbst gehe ich von einer Stabilisierung aus. Es gibt zwar eine leichte Tendenz, dass die FDP zulegen und die Grünen Schwierigkeiten bekommen könnten. Ich denke aber nicht, dass eine Partei stark Anteile gewinnen kann, da die Wählerstimmen ja von irgendwoher kommen müssten. Alles in allem werden es nur kleine Anpassungen sein. So war es in der Schweizer Politik eigentlich jahrzehntelang. Ein bis zwei Prozent Verschiebungen wurden bereits als Erdrutschsieg interpretiert - was natürlich eine Übertreibung ist.

Georg Lutz ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Lausanne und Projektleiter der Wahlstudie Selects beim Schweizer Kompetenzzentrum Sozialwissenschaften FORS.