cash: Herr Prof. Bieger, der Rauch hat sich ein wenig verzogen, seit dem die Kursuntergrenze der SNB abgeschafft wurde. Ihr Urteil als Ökonom fast eine Woche nach dem Knall?

Thomas Bieger: Das kann man erst dann beurteilen, wenn die realökonomischen Kräfte zum Durchbruch kommen. Im Moment sehen wir an den Märkten noch immer Reaktionen und Ausschläge. Man kann also noch nicht sagen, wo sich der Kurs des Euro zum Franken einpendeln wird. 

Steuert die Schweiz auf eine Rezession zu?

Falls der Eurokurs zum Franken längerfristig unter 1.10 verharrt, dann wird es schwierig. Die Preise in der Schweiz werden in gewissen Branchen sinken müssen. Das ist ein schmerzhafter Prozess mit vielen Auswirkungen.

Die Lohndebatte hat bereits begonnen.

Ja. Aber in dieser Hinsicht gibt es gewisse Grenzen. Es bestehen vertragliche Vereinbarungen. Auf der anderen Seite trägt ein breiter Teil der Bevölkerung auch steigende Kosten, die nicht in den Preisindex einfliessen. Viele Pensionskassen müssen sich sanieren. Das heisst, der Durchschnittsbürger trägt zunehmende Abgaben für die Pensionskasse, auch die Prämien der Krankenversicherungen steigen. 

Sie sind Reise- und Tourismusexperte. Der SNB-Schock trifft den Schweizer Tourismus hart.

Man hatte schon vor dem Ende der Kursuntergrenze eine schwierige Situation auf den europäischen Märkten. Die Schweiz war wegen der ersten Abwertungswelle des Euros schon teuer geworden. Das zweite Problem ist ein strukturelles: Die klassische Kundschaft für den alpinen Schweizer Tourismus ist eine Mittelklassefamilie. Solche Familien befinden sich unter wirtschaftlichem Druck. Sie haben weniger frei verfügbares Einkommen. Dieses Segment ist bereits geschwächt, auch ohne Wechselkursentwicklung. Nun kam mit dem Ende der Kursuntergrenze noch der zweite Schub. Dies in einer Zeit, die von grossen wirtschaftlichen Unsicherheiten geprägt ist. Etwas besser sieht es für den Städtetourismus und die international positionierten Sight Seeing Attraktionen aus. Beide Segmente sind auch noch in den letzten Jahren gewachsen.

Es sind nicht bloss die Preise. Der Schweizer Tourismus mache zu wenig strukturelle Reformen, um etwa mit Ländern wie Österreich mitzuhalten, hört man immer wieder. Schlägt jetzt die Stunde der Wahrheit, solche Reformen durchzuziehen?

Das muss man etwas relativieren. Man darf nicht vergessen, wie sich in den letzten Jahren die Durchschnittsgrösse der Schweizer Hotellerie entwickelt hat. Oder schauen Sie die Konsolidierung im Skimarkt an. Viele Bergbahnen haben fusioniert und teilweise auch Anlagen abgebaut. So etwas wäre vor ein paar Jahren undenkbar gewesen. Die Branche hat im Rahmen ihrer Möglichkeiten also schon einiges unternommen. Der weitere Handlungsspielraum wird begrenzt sein. 

Wie sehen Sie die langfristige Entwicklung für den Schweizer Tourismus?

Eines der grössten Probleme für viele alpine Tourismusorte ist die relativ kurze Auslastung. Wir haben im Winter ein paar Wochen Ferien, dasselbe gilt für den Sommer. Der Weg führt über die Saisonausdehnung. Das heisst, dass der Tourismus auf längere Saisons hinarbeiten muss. Das wird eine Ausdifferenzierung geben. Destinationen müssen alternative, neue Produkte einführen. Ich denke etwa an den Kongress- oder an den Gesundheitsbereich. Destinationen mit solchen Angeboten könnten dafür sorgen, dass sie nicht nur zwei oder drei Monate ausgelastet sind, sondern neun oder sogar zwölf Monate. 

Werden Zweitwohnungen zu einer Stütze?

Ja, das sind quasi gebundene Gäste. Die werden immer kommen, und falls es wirtschaftlich noch schlechter laufen sollte, werden diese Gäste viellicht sogar noch mehr kommen, weil sie dann ihre Reisetätigkeit einschränkten. Daher ist es ganz wichtig, dass die Tourismusgemeinden Sorge tragen zu diesen Zweitwohnungsbesitzern.