Hundert Dollar oder mehr für ein Barrel Rohöl - dieses Szenario könnte nach Einschätzung von US-Banken schon bald Wirklichkeit werden. Der Preis für ein Fass (159 Liter) Brent hat mit 89 Dollar ein Sieben-Jahres-Hoch erreicht, nach einem Anstieg von 50 Prozent im vergangenen Jahr und noch einmal rund 14 Prozent seit Anfang 2022. Hohe Energiepreise sind ohnehin der Inflationstreiber Nummer eins.

Doch hundert Dollar pro Barrel Rohöl könnten für Notenbanker die Karten im Zinspoker noch einmal ganz neu mischen, schätzen Experten. Sollten die Energiepreise nicht sinken, wäre das für den Preisauftrieb endgültig die Krönung, sagt Zentralbank-Experte Frederik Ducrozet vom Vermögensverwalter Pictet. Schliesslich fürchteten die Notenbanken schon jetzt eine Lohn-Preis-Spirale.

Wegen der rasant steigenden Inflation könnten Gewerkschaften höhere Löhne durchsetzen und die Unternehmen wachsende Kosten an die Konsumenten weitergeben. Solche Zweitrundeneffekte drohen die Teuerung dann noch weiter anzuheizen. Schon jetzt müssen Verbraucher in der Eurozone immer mehr Geld für ihre Energieversorgung bezahlen, wie Jorge Garayo, Inflations-Experte bei der Societe Generale, betont. Ein Barrel-Preis von hundert Dollar könnte aber schliesslich genau das Inflationsumfeld schaffen, das den folgenreichen Lohndruck erzeugt.

Zehn Prozent teureres Öl macht 0,5 Prozent mehr Inflation

Dabei wird für die Eurozone ohnehin schon kalkuliert, dass ein zehnprozentiger Anstieg des Ölpreises die Inflation um rund 0,5 Prozent nach oben treibt - auch wenn solche direkten Effekte in der Regel schnell wieder verschwinden. Wenn der Ölpreis hundert Dollar erreicht und auf diesem Niveau bleibt, muss die Europäische Zentralbank (EZB) zudem neu kalkulieren: Sie geht bei ihren Berechnungen davon aus, dass der Ölpreis dieses Jahr bei 77,50 Dollar liegt und bis 2024 auf 69,40 Dollar sinkt.

Goldman Sachs sieht die Schwelle von hundert Dollar je Barrel allerdings schon zur Mitte dieses Jahres erreicht. Niedrige Lagerbestände, knappe Produktionskapazitäten und politische Turbulenzen in mehreren Förderregionen könnten laut JPMorgan den Preis 2022 sogar noch auf 125 Dollar und 2023 dann auf 150 Dollar treiben. Schon bei einem Preisschild von 100 Dollar sei die psychologische Wirkung nicht zu unterschätzen, sagen Experten. Verbraucher spüren die Preissteigerungen an der Tankstelle und beim Heizöl-Einkauf. Und die Höchststände bei den Teuerungsraten bereiteten Konsumenten, Unternehmen und der Politik schon jetzt Kopfschmerzen.

So hatten die Konsumentenpreise in Grossbritannien und den USA jüngst Werte erreicht, die es zuletzt vor Jahrzehnten gegeben hatte. Dabei haben Zinserhöhungen beispielsweise der Bank of England sowie die Aussicht auf eine baldige Zinswende der Fed die Inflationserwartungen bereits etwas gedämpft und von der steil nach oben steigenden Ölpreiskurve abgekoppelt. Antonio Cavarero, Investmentchef beim Vermögensverwalter des Versicherers Generali, sieht auch die EZB in der Pflicht: Wenn sich die Inflation auf einem Niveau über den aktuellen Prognose einpendele, müssten alle Zentralbanken konservativere Ansätze verfolgen, einschliesslich der EZB, sagte Cavarero.

Rasche Zinswende kein Thema für die EZB

In der Euro-Zone war die Inflation im Dezember überraschend auf ein Rekordhoch von 5,0 Prozent gestiegen. Das ist der höchste Wert seit Beginn der Statistik 1997. Die EZB hält aber weiter die Füsse still. Am Donnerstag betonte Notenbankchefin Christine Lagarde, eine rasche Zinswende komme für die Frankfurter Währungshüter nicht infrage. Sie gehe davon aus, dass sich die Preise 2022 stabilisierten und es schrittweise zu einem Rückgang komme, sagte die oberste europäische Währungshüterin.

Alles nicht so dramatisch - diese These kann durchaus auch mit Blick auf die Hundert-Dollar-Schwelle beim Ölpreis vertreten werden. Demnach könnte der von Goldman Sachs prognostizierte Preisanstieg von über zehn Dollar in den nächsten Monaten unter dem Strich doch keine so grossen Effekte haben - einfach weil die die Inflationsraten schon jetzt den Sprung bei den Energiepreisen von vor einem Jahr widerspiegeln. Zudem ist die Wirtschaft gerade in westlichen Ländern inzwischen weniger energieintensiv als noch vor zehn Jahren.

Entscheidend für die Inflationsentwicklung und damit die Geldpolitik wird sein, wie sich die Ölpreise entwickeln, wenn der hohe Bedarf nach dem Winter nachlässt. Die nächsten Monate dürften auch zeigen, ob sich andere Inflationstreiber wie beispielsweise die weitreichenden Lieferengpässe abschwächen. Und letztlich könnte das teure Öl Konsum und Wirtschaftswachstum ausbremsen, womit wiederum die Energienachfrage abebben und der Ölpreis wieder sinken könnte. 

(Reuters/cash)