"Das ist ein Märchen", sagte der Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) in einem am Mittwoch veröffentlichten Interview der Nachrichtenagentur Reuters. Die Gefahr sei nicht akut. "Man muss jedenfalls keine Panik schieben, auch weil die Gewerkschaften nicht mehr eine so starke Verhandlungsmacht haben, wie dies noch in den 1970er Jahren der Fall war."

Es gebe eher deutliche Reallohnverluste. Dieses Jahr dürften die Löhne im Schnitt um 4,5 Prozent zulegen - bei einer Inflation in Deutschland von etwa acht Prozent. "Auch für die kommenden Jahre sehe ich keine Anzeichen, dass wir in eine Lohn-Preis-Spirale rutschen könnten."

Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) hatte zuletzt immer wieder vor einer solchen Spirale gewarnt und von einer realen Gefahr gesprochen. Fratzscher sagte dagegen, viele Unternehmen seien nicht überfordert mit den Lohnforderungen. Es gebe durchaus Spielräume in vielen Branchen. "In der Energiebranche zum Beispiel gibt es keinen Grund, dass die Lohnsteigerungen nicht deutlich über die Inflation hinausgehen. In anderen Branchen, die vor großen wirtschaftlichen Problemen stehen, sieht das anders aus und Lohnzurückhaltung ist richtig und notwendig."

Auch die Politik ist Fratzscher zufolge jetzt gefragt, könne den Druck auf viele Verbraucher senken, die mit einer schwindenden Kaufkraft kämpften. "Die Bundesregierung sollte umgehend ein drittes Entlastungspaket auflegen." Zielgenau müssten mittlere und geringe Einkommen auf längere Sicht entlastet werden, etwa eineinhalb Jahre. Das würde den Druck aus den anstehenden Lohnrunden nehmen. "Damit könnte die Bundesregierung mit einem großzügigen, ausgewogenen dritten Entlastungspaket einen wichtigen Beitrag dazu leisten, dass die Inflation in den kommenden Jahren nicht so stark steigt, wie wir das im Augenblick erwarten."

Der DIW-Chef machte sich für direkte Hilfstransfers an Menschen mit geringen und mittleren Einkommen stark - über ein Energiegeld in Höhe von 100 Euro pro Kopf und Monat für eineinhalb Jahre. Diese Gruppen geben verhältnismäßig viel für Energie und Lebensmittel aus. Es gehe um vierköpfige Familien mit weniger als 6000 Euro Bruttoeinkommen im Monat. "Menschen brauchen nicht einmalige, sondern dauerhafte Entlastungen." Das würde in etwa 30 bis 35 Milliarden Euro pro Jahr kosten - in etwa so viel wie die beiden bisher geschnürten Entlastungspakete im Zuge des Ukraine-Krieges.

Zur Finanzierung schlägt Fratzscher vor, höhere Schulden in Kauf zu nehmen und die inflationsbedingten Mehreinnahmen des Staates bei der Einkommens- und Mehrwertsteuer abzuschöpfen. Der Ökonom kritisierte die ab Oktober geplante Gasumlage, mit der Gas-Importeure stabilisiert werden sollen, in dem Verbraucher mehr zahlen müssen. "Die Gasumlage ist ein Fehler." Die Verbraucher würden hier in die Pflicht genommen für unternehmerische Risiken. Gewinne blieben bei den Unternehmen, hohe Verluste würden auf den Steuerzahler abgewälzt.

(Reuters)