Ungeachtet der wachsenden Rufe nach einer schnellen EU-Aufnahme der Ukraine bremste Macron bei seinem Antrittsbesuch in Berlin - und schlug eine neue politische Gemeinschaft vor, in der sich alle Länder versammeln sollten, die es nicht in die EU schafften oder schaffen wollen. Dazu zählte Macron namentlich die Ukraine, Grossbritannien und Bosnien-Herzegowina auf. Kanzler Olaf Scholz, der neben ihm stand, sprach diplomatisch von einem "sehr interessanten" Vorschlag.

Aber in Osteuropa schrillen bei solchen Vorschlägen die Alarmglocken, wie der Europa-Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), Nicolai von Ondarza, sagt. Zuletzt hatten sich etliche Regierungen hinter die Forderung Kiews nach einer besonders schnellen EU-Aufnahme der Ukraine gestellt - auch als Schutz des Landes vor dem Angreifer Russland. "Es droht eine starke Ost-West-Spaltung in der Debatte", warnt von Ondarza und verweist darauf, dass die EU bisher gegenüber Russland geeint aufgetreten sei. Aber Frankreichs Präsident werde nun wahrgenommen als jemand, der der Ukraine nur unterhalb des Beitritts etwas anbieten wolle.

Macron macht sich keine Freunde

Auch auf dem Westbalkan macht sich Macron mit seinem Vorschlag keine Freunde - und riskiert deshalb einen Konflikt mit dem engsten Partner Deutschland. Kanzler Olaf Scholz hatte erst letzte Woche betont, dass die EU schon aus geopolitischen Gründen und dem russischen Einfluss in der Region ihre EU-Beitrittszusagen gegenüber Serbien, Albanien, Nordmazedonien, Montenegro, Kosovo und Bosnien-Herzegowina einhalten müsse. Viele Staaten auf dem Westbalkan haben bereits den EU-Kandidatenstatus und fürchten nun, dass ihnen ein schlechteres Alternativmodell angeboten werden soll. Schon allein durch die Debatte über eine beschleunigte Aufnahme der Ukraine fühlten sie sich vor den Kopf gestossen: "Muss man erst von Russland überfallen werden, um in die EU zu kommen?", werde dort gefragt, sagt von Ondarza.

"Macron zerschlägt viel Porzellan. Allem Anschein nach wendet er sich mit der Idee dieses Staatenbündnisses an potenzielle europa- und erweiterungsskeptische Wählerinnen und Wähler in Frankreich", meint auch der Grünen-Europaabgeordnete Rasmus Andresen in Anspielung auf die bevorstehenden französischen Parlamentswahlen.

Richtige Debatte

Dabei sind sich die Experten einig, dass Macron durchaus eine wichtige Debatte angestossen hat. "Für mich klingt das nach einem realistischen und vernünftigen Ansatz, über Alternativen zur vollständigen EU-Integration nachzudenken, die auf absehbare Zeit nicht kommen wird", sagt etwa der Russland-Experte der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP), Stefan Meister, zu Reuters. "Das ist die Debatte, die geführt werden sollte: Welche anderen Formen von Integration oder Teilintegration gibt es und was bedeutet das für die Ukraine, Moldau und Georgien?" Sicherlich sei man in Kiew damit nicht zufrieden. "Aber realistisch gesehen wäre das eine Option, bei der eine teilweise Integration in zentralen Bereichen möglich ist, ohne dass die EU in ihren Entscheidungsmöglichkeiten durch weitere Mitglieder eingeschränkt wird."

Macron warnt seit langem, dass die EU mit neuen effizienten Abstimmungsverfahren erst fitgemacht werden müsse, um noch mehr als die bisherigen 27 Länder aufzunehmen - Ukraine hin oder her. Nach Angaben von EU-Diplomaten könnte sein Hinweis, dass man eine neue politische Gemeinschaft auch sicherheitspolitisch denken sollte, Russland entgegenkommen, das vehement gegen eine Nato-Erweiterung ist. Macron erwähnte in Berlin, dass man über Sicherheitsgarantien unterhalb des Nato-Niveaus nachdenken könne. DGAP-Experte Meister hält dies aber für irrführend. "Russland wird alles als Provokation ansehen. Ich glaube nicht, dass wir das Putin-Regime im Moment mit irgendetwas zufrieden stellen können", winkt er ab.

Assoziierte Mitgliedschaft oder Junior-Mitgliedschaft

SWP-Experte von Ondarza verweist auf ein psychologisches Problem: Es seien in den vergangenen Jahren schon andere Modelle wie eine assoziierte Mitgliedschaft oder eine Junior-Mitgliedschaft diskutiert worden, die für Länder wie Grossbritannien, Schweiz oder Norwegen akzeptabel sein könnten, die gar nicht EU-Mitglied werden wollen. "Aber die Staaten, die Mitglied werden möchten, sehen dies eher als 'Mitgliedschaft minus', als eine Behandlung als Staat zweiter Klasse", warnt er. Diese Erfahrung hat die EU bereits mit der Türkei gemacht, als CDU/CSU dieser nur eine privilegierte Partnerschaft anbieten wollte.

Um die Gemüter zu glätten, schlug der belgische Ministerpräsident Alexander de Croo vor, nicht über Namen zu streiten. "Es dauert locker mehr als zehn Jahre, um Mitglied werden zu können", sagte er mit Blick auf die Ukraine. Aber man könne doch neben dem klassischen EU-Erweiterungsprozess darüber nachdenken, wie man Länder stärker an die Union anbinden könne.

(Reuters)