Die Streitkräfte kämen im Nordwesten um die zweitgrösste ukrainische Stadt Charkiw weiter gut voran, sagte die stellvertretende Verteidigungsministerin Hanna Maljar der Nachrichtenagentur Reuters am Dienstag. Dies liege daran, dass die Truppe höchst motiviert und die Operation gut geplant sei. "Die Kämpfe dauern an", sagte Maljar und fügte hinzu: "Das Ziel ist, die Region Charkiw zu befreien und darüber hinaus alle Gebiete, die von der Russischen Föderation besetzt sind."

Maljar befand sich auf dem Weg nach Balaklija rund 74 Kilometer südöstlich von Charkiw, ein strategisch wichtiger Ort für den Nachschub der ukrainischen Truppen, den sie Ende vergangene Woche eingenommen haben. Laut Präsident Wolodymyr Selenskyj haben die ukrainischen Truppen mittlerweile ein Gelände von 6000 Quadratkilometer besetztes Gebiet zurückerobert. In seiner nächtlichen Video-Botschaft mahnte Selenskyj, der Westen müsse jetzt die Waffenlieferungen intensivieren. Er appellierte, "die Zusammenarbeit zu verstärken, um den russischen Terror zu besiegen". Insbesondere fordert die Ukraine die Lieferung von Kampf- und Schützenpanzern, vor allem aus Deutschland, und nennt dabei konkret den Kampfpanzer "Leopard".

Der deutsche Kanzler Olaf Scholz sicherte der Ukraine zwar erneut anhaltende Hilfe zu. "Die Ukraine preiszugeben, brächte keinen Frieden, im Gegenteil", sagte Scholz in Berlin. Allerdings lehnt Scholz die Lieferung von Kampfpanzern weiterhin ab, mit der Begründung, dass es keine Alleingänge Deutschlands geben werde. Die US-Regierung signalisierte aber, der Bundesregierung bei der Lieferung von Waffen freie Hand zu lassen. "Wir wissen die militärische Unterstützung Deutschlands für die Ukraine zu schätzen und werden uns weiterhin eng mit Berlin abstimmen", schrieb die US-Botschaft in Berlin auf Twitter. Aber: "Die Entscheidung über die Art der Hilfen liegt letztlich bei jedem Land selbst."

Ukrainische Offensive gegen die russischen Streitkräfte noch im Anfangsstadium

US-Aussenminister Antony Blinken bescheinigte den ukrainischen Streitkräften bei ihrer Gegenoffensive "bedeutende Fortschritte". "Ihr Vorgehen war sehr systematisch geplant und wurde natürlich von den Vereinigten Staaten und vielen anderen Ländern unterstützt, um sicherzustellen, dass die Ukraine über die Ausrüstung verfügt, die sie zur Durchführung dieser Gegenoffensive benötigt", sagte Blinken auf einer Pressekonferenz in Mexiko. Die ukrainische Offensive gegen die russischen Streitkräfte befinde sich noch im Anfangsstadium, es seien aber bereits bedeutende Fortschritte erzielt worden. Angesichts der Verluste, die Russland erlitten habe, sollte Russland dem Ganzen jetzt ein Ende setzen.

Ein in Moskau stationierter Diplomat, der namentlich nicht genannt werden wollte, riet allerdings zur Zurückhalten. "Ich bin ermutigt bei den Fortschritten der ukrainischen Offensive in Charkiw, aber wir sollten das nicht überbewerten", sagte er. Die entscheidende Frage sei jetzt, ob die ukrainischen Truppen weiter in Richtung Luhansk vorrücken könnten. "Es ist ein wichtiger Moment, aber noch nicht der Anfang vom Ende." Luhansk bildet zusammen mit Donezk den Donbass, die industriell geprägte Region im Osten der Ukraine. Teile des Gebiets werden bereits seit 2014 von prorussischen Separatisten kontrolliert. Die Einnahme des Donbass ist ein erklärtes Hauptziel der russischen Regierung.

Der Kreml erwägt nach eigenen Angaben derzeit keine Generalmobilmachung angesichts der Entwicklungen in der Ukraine. Präsidialamtssprecher Dmitry Peskow sagte im Gespräch mit Journalisten, entsprechende Forderungen und Kritik am Vorgehen der Regierung seien ein Beispiel der "Pluralität" in Russland. Die Bevölkerung an sich stehe aber weiterhin hinter Präsident Wladimir Putin. "Was andere Meinungen betrifft, kritische Meinungen, ist das Pluralismus, so lange sich das im Rahmen der Gesetze bewegt", sagte Peskow. "Aber das ist eine sehr, sehr feine Linie, man muss hier sehr vorsichtig sein." Die Ankündigung der Regierung, die Truppen um Charkiw "umzugruppieren", hatten bei russischen Kommentatoren teils ungewöhnlich wütende Reaktionen ausgelöst. 

(Reuters)