Herr Straumann, Sie rechnen mit einem starken wirtschaftlichen Aufschwung. Wie lange hält er an?
Tobias Straumann: Wann er abgeschlossen sein wird, lässt sich kaum prognostizieren. Nach der Öffnung werden wir bestimmt ein Jahr der Euphorie erleben. Dann stellt sich die Frage, ob es eine Konjunkturdelle gibt oder ob das Wachstum von fünf auf normale zwei Prozent zurückgeht.
Treten wir nun in eine Zeit der gesellschaftlichen Euphorie wie in den Goldenen Zwanzigern?
Nach der Krise stehen gute Zeiten bevor. Schon im Herbst wird sich die Einstellung geändert haben: Man wird optimistischer sein. Viele können sich nicht vorstellen, wie schnell sich alles wieder einrenken wird. Dann wird sich Bahn brechen, was zurückgestaut worden ist. Da sehe ich die Parallele zu den Roaring Twenties.
Was führte damals zu dem massiven Aufschwung?
Nach dem Ersten Weltkrieg war extrem viel beschädigt. Es dauerte fünf Jahre, bis die Umstellung vom Krieg auf den Frieden politisch und wirtschaftlich abgeschlossen war. Für den grossen wirtschaftlichen Aufschwung entscheidend war etwa die Einigung mit Deutschland über die Reparationszahlungen. Deutschland konnte dann zurück zum Goldstandard, Grossbritannien und das British Empire folgten bald. Diese Stabilität war etwa für die Wall Street und die internationalen Kapitalströme nach Europa entscheidend. Nach einer stockenden Aufbauphase begann so ein massiver Nachholeffekt beim verlorenen Wachstum, zum Teil stark kreditgetrieben.
Wie machte sich dieser bemerkbar?
Es gab in den USA einen starken technologischen Sprung. Mit dem Radio kam ein neues Massenmedium auf, die Elektrifizierung schritt voran, die Autoindustrie ging in die Breite. Es kamen neue Managementtheorien auf, die Produktion rationalisierte sich, und die Fabrikarbeit wurde dadurch effizienter. Damals konnte man ein unglaubliches Potenzial nutzen.
Wie entscheidend war das Ende der Spanischen Grippe?
Die Spanische Grippe hatte wirtschaftlich gesehen weniger Spuren hinterlassen. Die Wirtschaft lief während der Pandemie mehr oder minder normal weiter. Man konnte es sich schlicht nicht leisten, ganze Industrien zu schliessen. Übrigens hat man das auch in den 1950er Jahren, als die Asiatische Grippe wütete, nicht getan.
Wieso hat man heute so drastisch reagiert?
In der modernen Gesellschaft hat sich das Verhältnis zum Tod geändert. Wir sind solche Krisen nicht mehr gewohnt. Dass man bei der ersten Welle alles schloss, konnte ich gut verstehen. Bei der zweiten Welle war das Krisenmanagement aber nicht optimal.
Wie haben sich die Roaring Twenties in der Schweiz ausgewirkt?
Besonders der Finanzplatz erlebte einen gewaltigen Aufschwung, und die Zürcher Börse wurde international. Aus kriegsgeschädigten Ländern floh viel Kapital in die Schweiz. Die Schweiz war aber auch industriell sehr wettbewerbsfähig, vor allem in der Chemie- und der Maschinenindustrie. Der wichtigste Treiber war aber die Erholung der Weltwirtschaft.
Prof. Dr. Tobias Straumann (*1966) ist Wirtschaftshistoriker mit Forschungsschwerpunkt europäische Finanz- und Währungsgeschichte sowie Schweizer Unternehmensgeschichte. Er lehrt an den Universitäten Basel und Zürich.
Dieser Artikel erschien zuerst bei Bilanz.ch mit dem Titel: "Wirtschaftshistoriker Tobias Straumann: 'Nach der Öffnung werden wir bestimmt ein Jahr der Euphorie erleben'".