Dass einmal die Kriminalpolizei vor seiner Tür stehen würde, hätte sich der Online-User "memyselfandi007" wohl nicht gedacht, als er am 1. Mai 2008 einen kritischen Kommentar zu Wirecards Bilanzpraktiken im Börsenforum "Wallstreet-Online" veröffentlichte. Wahrscheinlich ebenso wenig erwartete er damals, dass er es mit seinem User-Pseudonym ins deutsche "Handelsblatt" schaffen würde. Der Forum-Beitrag ist noch immer ersichtlich, musste aber damals offenbar in Teilen gekürzt oder gar gestrichen werden.

Die konkreten Vorwürfe die "memyselfandi007" damals formulierte und heute – 12 Jahre später – auf seinem Blog noch mal resümiert, klingen heute aktueller denn je und werfen einmal mehr die Frage auf, wieso es zwölf Jahre brauchte, bis das Kartenhaus Wirecard erstmals wirklich ins Wanken geriet – und mit der Insolvenz schliesslich zusammenstürzte.

Ungereimtheiten bei Bilanzierung

So bemängelt der User bereits damals das hoch intransparente Reporting vom Zahlungsdienstleister. Wirecard war damals noch weit weg von einer Dax-Aufnahme, aber galt bereits als aufstrebender Tech-Wert. Die Vorwürfe aus dem Jahr 2008 gleichen denen, die in den letzten Jahren immer wieder hochkamen und 2019 schliesslich von der "Financial Times" mit Nachdruck formuliert wurden: Die Bilanz von Wirecard zeige nicht schlüssig auf, woher grosse Teile des Konzernumsatzes stammen.

Bei vielen Cash-Positionen stelle sich etwa die Frage, zu wem oder was diese eigentlich gehörten, so der User "memyselfandi007" damals. Wer hat eigentlich das Geschäft gemacht? Heisst: Von wo kamen die Umsätze? Das erinnert stark an die heutige Diskussion um die angeblichen 1,9 Milliarden Euro, die von Wirecard als Cash-Position auf einem philippinischen Treuhandkonto ausgegeben wurden und letzten Endes "sehr wahrscheinlich" gar nicht existieren, wie das Unternehmen jüngst einräumen musste.

Verdächtig hohe Marge

Zudem fragte sich "memyselfandi007" bereits damals, wie Wirecard derart profitabel sein konnte, wie in der Bilanz ausgewiesen. Dies ist ein Punkt, der Experten und Analysten bis zuletzt ins Staunen gebracht hat – oder eben ins Grübeln. Schliesslich sind Konkurrenten wie die niederländische Adyen auch profitabel, konnten margenmässig aber nie mit Wirecard mithalten. Wie die hohe Marge zustande kam, hat bis zuletzt niemand wirklich aufzeigen können. Heute wissen wir, sie gab es in dieser Form wohl auch nicht.

Ein weiterer Punkt, der "memyselfandi007" 2008 aufhorchen liess, waren die regelmässigen Kapitalerhöhungen von Wirecard. Warum muss ein Konzern trotz hoher Cash-Bestände und einer angeblich hohen Profitabilität ständig Kapitalerhöhungen durchführen? Zudem wunderte er sich über die merkwürdige Übernahmekultur von Wirecard. Stets zum Jahresende hin wurden Akquisitionen getätigt, was ein bewährtes Mittel ist, um fehlende Umsätze zu kaschieren und sich einfach einzukaufen.

Deutsche Behörden schon damals geschlafen

Der User-Post zeigt, dass der Zahlungsdienstleister Wirecard bereits früher über einen dubiosen Ruf verfügte. Er zeigt, dass die Vorwürfe von heute schon damals grösstenteils auf den Tisch lagen. Und er zeigt wohl auch, dass die deutschen Behörden auch damals schon nicht auf der Höhe des Geschehens waren.

"memyselfandi007" ist heute Blogger und schreibt diese Woche auf seinem Blog valueandopportunity.com, wie die deutsche Kriminalpolizei damals – kurz nach seinem wallstreet-online-Post – plötzlich vor seiner Tür stand und ihn der Marktmanipulation beschuldigte. Die Ermittlungen gegen ihn wurden allerdings fallen gelassen, da er damals bei Wirecard nicht short ging und sich der Beitrag im Forum als einfache Meinungsäusserung erwies.

Dass Wirecard damals selbst gegen den User vorgegangen ist und offenbar bei der Polizei nachfragte, wer sich denn hinter "memyselfandi007" verbergen würde, wirft ein noch schlechteres Licht auf den Zahlungsdienstleister.

Finanzskandal um Insiderhandel

Schliesslich löste "memyselfandi007" mit seinem Post tatsächlich noch einen handfesten Finanzskandal aus, an dessen Ende Funktionäre der deutschen Schutzgemeinschaft der Kapitalanleger (SdK) verurteilt wurden. Wie das "Handelsblatt" damals schrieb – und auch "memyselfandi007" in seinem Blog-Eintrag von dieser Woche noch einmal aufgreift – liess sich Markus Straub, damaliger Sdk-Funktionär, vom damaligen Post auf wallstreet-online inspirieren und ging massiv short bei Wirecard.

Nachdem Straub einige Hebelprodukte gegen Wirecard gekauft hatte, warf die SdK dem Zahlungsdienstleister öffentlichkeitswirksam "irreführende Jahresabschlüsse" vor. Was sich letzten Endes als richtig herausstellte, war damals natürlich trotzdem nichts anderes als Insiderhandel. Straub und viele seiner Kollegen landeten damals für einige Jahre im Gefängnis.