cash.ch: Den Zentralbanken, die seit zehn Jahren die Lage mit Anleihenkäufen ruhig halten, kommt eine steigende Inflation in die Quere. Haben wir bald ein Durcheinander an den Finanzmärkten?

Caroline Hilb: Ein Durcheinander nicht. Aber die Herausforderungen für die Notenbanken sind gross, in dieser Lage die Übersicht zu behalten.

Neben den Inflationserwartungen gibt es auch noch die Aufregung um die steigenden Zinsen bei langfristigen Staatsanleihen, besonders den Treasury Bills in den USA.

Wir haben einen relativ starken Zinsanstieg gesehen. Aber wir sind lediglich bei den Niveaus angelangt, die wir vor der Krise gesehen hatten. Meine Interpretation ist, dass die Zinsen gestiegen sind, weil die Konjunkturerwartungen des Marktes gestiegen sind. Aus makroökonomischer Sicht bewerte ich den Zinsanstieg nicht als kritisch.

Anleger erwarten von den Notenbanken vor allem eines: dass sie die Kontrolle behalten. Ist dies realistisch?

Die Notenbanken können die Kontrolle behalten, indem sie verbal intervenieren. Die Europäische Zentralbank (EZB) machte dies letzte Woche, und es funktionierte. Die Notenbanken können auch direkt am Kapitalmarkt intervenieren, um die langfristigen Zinsen zu steuern. Neuerdings macht Australien dies. Die Fed in den USA wiederum kann beispielsweise beschliessen, bei einer Obligationenrendite von 1,5 Prozent zu intervenieren und eine Gegenposition einzunehmen. Diese Möglichkeit besteht. Es sind noch Instrumente da.

Was die Märkte erschreckt, ist aber auch die Geschwindigkeit des Zinsanstiegs seit Januar. Ist der Markt nicht zu nervös?

In den letzten zwölf Monaten ist eigentlich alles schnell und extrem gewesen. Ich sehe weniger den Ausdruck einer nervösen Phase, sondern einer historisch einmaligen Zeit. Global brachen vor einem Jahr die Volkswirtschaften zusammen. Die Verwerfungen am Zinsmarkt mit sehr tiefen Ständen damals beurteile ich als kritischer als das, was heute passiert. Die Zinssenkungen der Fed gingen völlig am Markt vorbei. Die Frage nach dem Kontrollverlust war damals viel grösser.

Was ist jetzt anders?

Jetzt gehen wir eher wieder Richtung Normalisierung. Die Impfungen funktionieren, und wir haben Grund zur Vermutung, dass Geimpfte weitestgehend nicht mehr ansteckend sind. Dies ist sehr wichtig. Konjunkturell zieht in Asien die Industrie an und Lieferketten sind wieder in Gang.

Schnell angestiegene Obligationenzinsen gefährden Wachstumsaktien, deren hohe Bewertungen durch tiefe Zinsen bisher eher zu rechtfertigen gewesen sind. Ist da Vorsicht geboten?

Die höheren Zinsen haben vor allem die Wachstumserwartungen bei diesen Aktien verändert. Diese wollen über die Breite wachsen, dabei ist die Profitabilität sekundär und oft erst in der Zukunft im Fokus. Ein Stück weit sind die Erwartungen anders, aber nicht in den Grundsätzen. Die hohen Zinsen erschüttern uns bei Wachstumstitel noch nicht bis ins Mark. In ein sorgfältig aufgestelltes Portfolio gehören Wachstumstitel hinein. Aber nicht unbedingt als Kernanlage.

Aber müssen Anlegerinnen und Anleger mehr auf Assetklassen ausweichen, die bei steigenden Zinsen weniger negativ betroffen sind?

Es ergibt sicherlich Sinn, im aktuellen Umfeld eine Neupositionierung zu prüfen. Zum Beispiel wieder mehr Finanzwerte ins Portfolio zu nehmen. Diese hatte man fast gar nicht mehr auf dem Radar. Auch in Industrie- und Konsumwerte kann man angesichts der aufgehellten Konjunkturerwartungen wieder vermehrt investieren. Swatch beispielsweise profitiert jetzt von der langsamen Normalisierung und von der verbesserten Konsumstimmung. Swatch als Aktie zum Einsteigen ist zwar ein bisschen ein Evergreen – aber im Moment gar nicht uninteressant.

Was für Finanzwerte empfehlen Sie?

Ich würde bei Banken die Situation ganz konservativ angehen und auf die Bilanzqualität und das Geschäftsmodell schauen. Ich würde vor allem in Aktien investieren, die vom Asset Management profitieren, beispielsweise Vontobel. Wenn man von einer höheren Volatilität am Markt ausgeht – und ich denke, wir werden diese wegen der Zinsbewegungen haben – ist es auch sinnvoll, Banken mit Investmentbanking ins Visier zu nehmen. 

Da fallen einem die eigentlich seit langem für Investoren enttäuschenden Aktien von Credit Suisse und UBS ein.

Da bin ich bei den Grossbanken hin- und hergerissen. Ich bleibe aber bei der Ansicht, dass die UBS zum Traden und für kurzfristige Engagements interessant ist. Ich stelle aber auch fest, dass viele Leute ein fast emotionales Verhältnis zu dieser Aktie haben.

Finanzwerte, die Sie empfehlen, umfassen auch Versicherer. Aber ausser bei der Swiss Life tut sich da kursmässig auch noch nicht so viel.

Es braucht bei den Schweizer Versicherern eine gewisse Risikobereitschaft. Aber einen Titel wie Swiss Life darf man positiv sehen. Ein interessanter Versicherungswert ist aber auch Helvetia. Zwar ein Versicherer mit kleinräumigem Geschäft, aber dank einer positiven Turnaround-Geschichte vielversprechend.

Weniger risikoreich als Versicherer, aber in den vergangenen Monaten auch weitgehend unerfreulich für Anleger, sind die SMI-Schwergewichte. Sehen Sie bei Nestlé, Roche und Novartis einen Grund, einzusteigen? Es tut sich im Moment nicht viel.

Die Pharma-Aktien Roche und Novartis sind wegen der Diskussionen um die hohen Medikamentenpreise in den USA und wegen des Umsatzzerfalls bei den Medikamenten, welche den Patentschutz verloren haben, unter Druck geraten. Aber das ist vielleicht genau ein Zeitpunkt, um bei Novartis einzusteigen, da wir glauben, dass Novartis weniger stark davon betroffen ist. Beide Aktien sind aber gute Dividendenzahler und haben langfristig ein solides Wachstumsmodell. Nestlé lief in der Vergangenheit schon sehr gut, hat jetzt aber auch vom Homeoffice profitiert, etwa beim hochmargigen Kaffee. Als Kern eines Portfolios mit einer langfristigen Anlage gehört Nestlé dazu. Punkt. Die Wachstumsaktien würde ich eher darum herum gruppieren.

Stichwort langfristiges Anlegen: Im Moment dominieren kurzlebige Investments, Trading, von Social Media getriebene Aktien, Kryptowährungen mit starken Rallys – was raten Sie Langfristanlegern in diesem Umfeld?

Erstens: Eine gute Anlagestrategie ist langweilig. Wenn ein "Unterhaltungswert" dabei ist, frage ich mich, wonach die Leute eigentlich suchen. Langfristinvestoren rate ich, bei Hypes vorsichtig zu sein. Man weiss oft gar nicht, wer am Schluss das Rennen wirklich macht. Ein Beispiel aus den vergangenen 20 Jahren ist Apple. Dank Smartphones hat dieser Anbieter das Rennen gemacht, und nicht wie alle am Anfang dachten, Nokia. Zweitens: Man muss sich vor allem mit den Unternehmen auseinandersetzen, und gar nicht so sehr immer mit dem Markt. Microsoft etwa war erst 2013 wieder auf dem Niveau von 2000, aber es war eigentlich immer klar, dass es sich um eine gute Firma handelt. Bei Wachstumsaktien muss man sich bewusst sein, dass es seine Zeit dauert und sich Wachstum nur langsam auszahlen kann.

Auch Bitcoin ist ein Hype-Thema – besonders in den vergangenen Wochen. Aber ist es nicht trotzdem eine gute Idee, auf Bitcoin auch langfristig zu setzen?

Durchaus. Bei Bitcoin muss man sich als Investor darüber klar werden, auf was man sich einlässt. Bitcoin ist eine relativ neue Anlageklasse, die auch von der Präsenz lebt, die sie im öffentlichen Raum hat. Man hat sich noch nicht wie beim Gold darauf geeinigt, wie werthaltig Bitcoin ist. Dazu kommt, dass Bitcoin durch eine andere Kryptowährung ersetzt werden kann, Gold hingegen wohl nicht durch ein anderes Edelmetall. Bitcoin ist extrem faszinierend, nicht zuletzt wegen der Preisentwicklung. Wer Bitcoin spannend findet, die Blockchain-Technologie mag und vom Prozess des Schürfens fasziniert ist, kann investieren, muss sich aber auch der Wertschwankungen bewusst sein.

Was ist Ihre Prognose für den Aktienmarkt bis Mitte Jahr?

Der SMI kann die 11'000er-Marke bis Mitte Jahr erreichen. Es wird kein steiler Kursanstieg sein, aber mit gewissen Wertschwankungen wird der Kurs dorthin führen.