cash: Herr Neumann, in diesem Jahr gab es an der Schweizer Börse bislang keine klassischen IPOs. Die zwei Börsengänge von V-Zug und Ina Invest waren Abspaltungen von Unternehmen. Sind die IPO-Kandidaten in einer Schockstarre?

Andreas Neumann: Das würde ich nicht sagen. Es gibt zwischendurch immer wieder Jahre mit wenigen oder keinen IPOs. Aber es ist nachvollziehbar, dass für Unternehmen, die sich Anfang Jahr Gedanken zu einem IPO gemacht hatten, ein Börsengang während des Lockdowns kein Thema mehr war. Das hätte in den meisten Fällen auch keinen Sinn gemacht bei volatilen Kursen und tieferen Bewertungen. Typischerweise finden in der Schweiz über 40 Prozent der IPOs im zweiten Quartal statt. Und in diese Zeit fiel nun ausgerechnet der Lockdown. 

Im Ausland gibt es viele Firmen, die kürzlich ein IPO durchgeführt, angekündigt oder gerüchtehalber aufgegleist haben: Palantir, Bumble, Airbnb in den USA, Ant und Nongfu Spring in China oder Hensoldt in Deutschland. In der Schweiz herrscht Funkstille. Tut sich da eine Schere auf?

Es ist ja nicht so, dass sich in der Schweiz extrem viele IPOs ereignen. In den letzten zehn Jahren waren es zwischen einem und sechs Börsengängen pro Jahr. Wenn zufallsbedingt nun ein oder zwei IPOs weniger stattfinden, sieht die Statistik schnell anders aus. So etwas fällt an Börsenplätzen wie der Nasdaq wegen der Grundmenge weniger ins Gewicht. Dort konnten im laufenden Jahr eine zweistellige Anzahl Biotech-Firmen unter anderem gerade wegen der Coronakrise ein IPO erfolgreich vollziehen. Ganz abgesehen davon ist die Anzahl der Börsengänge auch europaweit ziemlich überschaubar im Jahr 2020. In Deutschland gab es meines Wissens deren drei, in Frankreich vier und in Italien leicht mehr, wobei es sich vor allem um Kleinst-IPOs handelt. 

Rechnen Sie noch mit einem Börsengang in der Schweiz in diesem Jahr?

Vom Zeitpunkt der Ankündigung eines Börsengangs bis zum ersten Handelstag dauert es etwa vier Wochen. Und typischerweise schliesst sich das Fenster für einen Börsengang 'regulatorisch' bedingt Mitte November. Sie sehen, es verbleiben also noch einige Wochen. In den letzten zehn Jahren gab es nur sieben echte Börsengänge im vierten Quartal. Ich will dennoch nicht ausschliessen, dass es in der Schweiz noch zu einem oder zwei IPOs kommen wird.

In den USA hat es etwa mit Spotify oder Slack recht viele erfolgreiche Börsengänge mit so genannten 'Direct Listings' gegeben, also ein IPO ohne Einbezug von Investmentbanken und ohne Platzierung von Aktien. In der Schweiz sind solche Börsengänge fast durchweg ein Misserfolg. Warum?

In der Schweiz waren dies, im Gegensatz etwa zu Spotify, kleine Unternehmen mit einer tiefen Anzahl frei handelbarer Aktien und oft unausgereiften Geschäftsmodellen. Es gibt bei den Aktien kaum Liquidität im Markt und kein Research zu den Firmen. Die Schweizer Börse SIX hat Anfang Jahr die Regeln für 'Direct Listings' zudem verschärft.

Anders als bei Börsengängen gab es im Jahresverlauf viele Umplatzierungen von grossen Aktienpaketen. So trennte sich Grossinvestor Saint-Gobain quasi über Nacht von der 11 Prozent-Beteiligung an Sika. Täuscht der Eindruck der gestiegenen Aktivitäten?

Nein, das ist auch statistisch belegbar. Es gab 2020 am Schweizer Markt 13 so genannte beschleunigte Bookbuilding-Verfahren mit bestehenden Aktien und vereinzelte mit neuen Aktien. Diese Zahl ist rekordverdächtig. Bei der Firma Softwareone gab es gleich zwei Umplatzierungen von Aktienpaketen.

Warum kam es zu dieser Hektik?

Die IT-Industrie gehört sicherlich zu den Gewinnern der Coronakrise, was zu einem Anstieg der entsprechenden Aktienkurse führte. Aufgrund der signifikanten Kurserholung seit Mitte März dürften Grossaktionäre den Zeitpunkt für einen Ausstieg oder Teilausstieg genutzt haben. Aufgrund der positiven Aussichten in der IT-Branche mit entsprechenden Empfehlungen seitens vieler Aktienanalysten war der Einstieg für Investoren auch auf den gestiegenen Kursen weiterhin attraktiv. Der Kurs von Softwareone hat sich seither absolut und relativ gegenüber dem Gesamtmarkt positiv entwickelt. 

Das heisst, es könnte durchaus zu weiteren solchen grossen Umplatzierungen oder Teilverkäufen kommen?

Das kann ich mir durchaus vorstellen. Vor allem bei Aktien von Unternehmen, die sich besser als der Markt entwickelt haben und aufgrund des 'Investment Cases' weiterhin Potential haben.

Obwohl solche Transaktionen quasi über Nacht passieren und neue Investoren die Aktien abnehmen, fallen die Titel dann jeweils deutlich, so auch beim Beispiel Sika. Warum?

Typischerweise werden solche beschleunigten Platzierungen von Aktien während eines Tages mit einzelnen Investoren unter strenger Geheimhaltung evaluiert und vorbereitet. Sofern eine stabile Nachfrage erkennbar ist, erfolgt nach Börsenschluss um 17:40 Uhr die Ankündigung der Platzierung. Damit kann eine zusätzliche Nachfrage erzeugt werden. In der Regel gibt es zwei Arten von Investoren, welche Interesse an derartigen Platzierungsverfahren haben: Die langfristig orientierten Anleger wie Pensionskassen oder Vermögensverwalter, und die kurzfristig orientierten Anleger wie Hedgefonds. Letztere verkaufen die Aktien unter Umständen bereits am Folgetag der Platzierung wieder und nutzen dabei den kleinen Preisabschlag aus, der sich in der Regel zwischen dem Aktienkurs und dem Platzierungspreis ergibt. Das erhöht temporär den Druck auf den Kurs.

Eine solche kurzfristige Kursbaisse wäre bei soliden Unternehmen demnach eine gute Kaufgelegenheit für Investoren.

Ich bin einverstanden mit Ihrer Aussage.

Erwarten Sie in den nächsten Monaten mehr Kapitalerhöhungen am Schweizer Markt, da sich die Kapitalsituation von Unternehmen im Lauf der Krise verschlechtern könnte?

Ich kann mir vorstellen, dass sich gewisse Unternehmen auf diesem Weg neue Eigenmittel beschaffen werden müssen.

Wie sollen sich Anleger grundsätzlich verhalten bei Kapitalerhöhungen? 

Da gibt es kein pauschales Rezept. Als Investor muss man sich folgende Frage stellen: Glaubt man langfristig an das Unternehmen und wie ist das Portfolio diversifiziert? Und unabhängig von einer Kapitalerhöhung gilt: Ein Investor sollte sich diese Frage immer stellen, wenn ein Aktienkurs sinkt und das Unternehmen unter Druck steht. Bei einer Kapitalerhöhung kann man auch einen Mittelweg wählen. Man veräussert die Bezugsrechte und erwirbt mit der Erlössumme im Rahmen der Transaktion neue Aktien des Unternehmens. Will man an der Kapitalerhöhung nicht partizipieren, empfiehlt es sich, die Bezugsrechte relativ früh zu veräussern, denn gegen Ende des Bezugsrechthandels sinken die Kurse häufig, weil Banken die Bezugsrechte nicht ausübender Aktionäre interessewahrend verkaufen.

Aktiensplits finden in den USA vor allem bei Tech-Titeln derzeit gehäuft statt. In der Schweiz scheint man da zurückhaltender, obwohl man sich bei Aktien wie Lindt, Givaudan oder Belimo auch Splits vorstellen könnte.

Im Schweizer Markt sind im Gegensatz zum internationalen Umfeld seit Jahrzehnten höhere Kurswerte üblich. Erst die Aktienrechtsrevisionen haben den Weg für Aktiensplits geebnet. Der minimale Nennwert einer Aktie wurde schrittweise reduziert von einst 100 Franken auf derzeit 1 Rappen und wird im Rahmen der nächsten Revision weiter reduziert, was zusätzliche Aktiensplits ermöglicht. Aktuell liegt der Median bei 80 Franken je Aktie.

Warum passieren die Splits hierzulande nicht häufiger?

Da spielen sicherlich gewisse Exklusivitätsüberlegungen eine Rolle. Bei einigen Unternehmen gibt es auch logistische Überlegungen. Man will oder kann aus Kapazitätsgründen gar nicht mehr Aktionäre an der Generalversammlung teilhaben lassen. 

Was spricht für die Teilung von Aktien?

Für einen Split sprechen das ausgestrahlte positive Signal, eine erhöhte Handelsliquidität sowie eine erwünschte Vergrösserung der Aktionärsbasis. Im Vergleich zu sehr hohen Kurswerten fällt das 'Market Making' leichter, was zu einer attraktiveren Geld-Brief-Spanne einer geteilten Aktie und weniger Zufallskursen führt. Splits sind primär für Privatanleger von Interesse. Sie präferieren häufig zehn Aktien à 100 Franken gegenüber einer Aktie für 1000 Franken. Für einen institutionellen Investor ist es irrelevant, ob eine Aktie 500, 5000 oder 50'000 Franken kostet. Er investiert ohnehin ein Mehrfaches dieses Betrages. 

Sehen Sie andere, weniger bekannte Vorteile eines Splits?

Zum Beispiel bei Mitarbeiterbeteiligungsprogrammen. Titel mit einem tieferen Wert kann man viel adäquater und zielgerichteter für Aktienbeteiligungspläne einsetzen.

Mögen Sie sich an den letzten Aktiensplit einer SMI-Firma erinnern?

Da muss man weit zurückblicken... (schaut in der Datenbank nach) Nestlé führte im Jahr 2008 einen Split durch. Und als letzte grössere Schweizer Firma tat dies Helvetia im letzten Jahr. Viele kleinere Firmen kombinieren Splits mit der Einführung von Einheits- oder Namenaktien oder mit Nennwertreduktionen. 

Andreas Neumann ist seit 2002 bei der Zürcher Kantonalbank beschäftigt, wo er den Bereich Equity Capital Markets leitet. Er studierte an der Universität Zürich Betriebswirtschaft und doktorierte zum Thema "Fusionen und fusionsähnliche Unternehmenszusammenschlüsse". Neumann unterrichtete an mehreren Fachhochschulen. Er ist Verfasser zahlreicher Publikationen und Bücher zum Thema Corporate Finance.