Subtrahiert man von 100 das eigene Lebensalter, erhält man den idealen Aktienanteil im persönlichen Portfolio. Oder: Je älter man wird, desto weniger Aktien gehören ins Depot - und umso grösser wird der Anteil risikoarmer Anlagen wie Staatsobligationen mit hoher Bonität. Nach dieser Faustregel gingen viele Anleger jahrzehntelang vor. Oder es wurde ihnen gesagt, es so zu tun.
 
Doch die Zeiten haben sich geändert. Und es gibt drei Hauptgründe, diese Strategie zu hinterfragen: Erstens leben wir in Zeiten rekordtiefer Zinsen. Kaum ein Sparkonto wirft noch Zinsen, eine Vielzahl zehnjähriger Staatsanleihen rentiert im kaum wahrnehmbaren einstelligen Bereich. Noch in den 1970er Jahren bekam man etwa für eine zehnjährige kanadische Staatsobligation 13 Prozent Zins. Heute sind 1,3 Prozent.
 
Zweitens wird die Lebensphase zwischen Pensionierung und Tod immer länger. Während die Lebenserwartung laufend zunimmt, erhöht sich das Rentenalter in der Schweiz nur langsam. Derzeit liegt es bei für Männer bei 65 und für Frauen bei 64, letzteres soll aber bis 2021 ebenfalls auf 65 erhöht werden. Der durchschnittliche Rentner-Anlagehorizont in der Schweiz beträgt rund 20 Jahre.
 
Risikofähigkeit so hoch wie nie
 
Drittens wird es für Vorsorgeeinrichtungen wie die AHV und die Pensionskassen immer schwieriger, Rendite zu erwirtschaften. Im Durchschnitt erzielten die Schweizer Kassen der zweiten Säule 2015 eine Performance von 1,13 Prozent – die Mindestvorgabe des Bundes beträgt 1,75 Prozent. Folglich nimmt die Notwendigkeit, selbst mit seinem Geld etwas zu unternehmen, zu. Ist der alte Kanon also überholt?
 
"Die Faustregel, wonach der Aktienanteil in einem Portfolio mit zunehmendem Alter abnehmen sollte, ist eigentlich falsch. Denn im Alter von 65 verfügen die meisten Personen über die höchste Risikofähigkeit", sagt Peter Bänziger, Investmentchef der Zürcher Vermögensbetreuung Belvalor.
 
Langjährige Verpflichtungen wie die Unterstützung der eigenen Kinder fallen bei den meisten Leuten im Rentenalter weg. Zudem beträgt ihr Anlagehorizont immer noch rund 20 Jahre. Was auch oft vergessen geht: Über die AHV und die Pensionskasse ist bereits ein grosser Teil des Vermögens in Obligationen investiert. "Es wäre also die ideale Zeit, um mit dem frei verfügbaren Geld auf Aktien zu setzen", so Bänziger.
 
Schrittweise Veränderung
 
Doch häufig fehlt dieses Bewusstsein. Vermögensberater oder Finanzplaner sagen, dass sich das Verhalten der Kunden nur schrittweise verändere. "Ich mache die Erfahrung, dass die tiefen Zinsen die Leute nachdenklich stimmen. Sie sind allgemein skeptischer geworden gegenüber Investments und üben sich in Zurückhaltung", sagt Andreas Tännler vom Zentrum für unabhängige Finanzberatung.
 
Vielerorts werde trotz tiefer Zinsen Bargeld gehortet, auch als Antwort auf die gestiegenen politischen und wirtschaftlichen Risiken auf globaler Ebene, so Vorsorge-Experte Tännler weiter. 
 
So schnell wird sich das aktuelle Umfeld nicht ändern. Tief- und Negativzinsen sowie der damit einhergehende Anlagenotstand dürften noch einige Jahre Bestand haben. Die St. Galler Kantonalbank geht davon aus, dass es noch bis mindestens Mitte 2018 dauert, ehe in Europa und der Schweiz die Geldmarktzinsen angehoben werden.
 
Das führt dazu, dass sich viele Anleger zu einer Veränderung durchringen müssen. "Sie werden allmählich zu mehr Risiko gezwungen. Beliebter werden beispielsweise Investments in Immobilien, Unternehmensanleihen oder eben Aktien", sagt Peter Bänziger.
 
Dividenden ersetzen Obligationen
 
Derzeit gibt es eine Reihe von Aktien, die alleine mit ihren Dividendenrenditen Staatsanleihen mit tiefer Ausfallwahrscheinlichkeit um Längen schlagen. Der Westschweizer Nahrungsmittelkonzern Nestlé zum Beispiel hat seine Dividende in den letzten 20 Jahren kontinuierlich erhöht. In Kombination mit den Gewinnen des Aktienkurses kommt man so auf eine jährliche Rendite, die über 10 Prozent liegt.
 
Aktien mit attraktiven und konstanten Dividenden haben also durchaus ihre Berechtigung in einem Rentner-Portfolio. Weitere Kriterien bei der Titelauswahl können sein: ein langjähriger Erfolgsausweis, Kontinuität in der Führungsmannschaft, konstante Nachfrage nach den Produkten oder ein Markt mit hohen Eintrittshürden.
 
Selbstverständlich eignen sich Aktien auch unter den heutigen Umständen nicht für jedermann. Nochmals Finanzplaner Andreas Tännler: "Wer im Alter flüssige Mittel benötigt, sollte sein Geld weiterhin zurückhaltend anlegen."