cash.ch: Herr Voth, Experten gehen wegen des Coronavirus von einem Lockdown bis mindestens Ende April aus – im allerbesten Fall. Wie lange hält eine Volkswirtschaft absoluten Stillstand aus?

Joachim Voth: Wissen Sie, ob das jetzt zwei Monate gutgehen kann oder drei oder noch mehr, das weiss niemand. Das Gefährliche in dieser Diskussion ist: Es wird denen zugehört, die behaupten, dass sie es wüssten. Das ist übrigens ein ganz normales Phänomen. Wenn Krisen herrschen, will jeder Gewissheit. Bei Krankheiten gehen die Leute zum Arzt und wollen genau wissen, wie lange es dauert, was man tun muss undsoweiter. Vieles von dem, was verbreitet wird, ist eine Antwort auf den psychologischen Bedarf in der Gesellschaft nach Klarheit und Sicherheit.

Dann frage ich anders: Wie schlimm wäre es, wenn die Wirtschaft monatelang in den Ruhemodus gesetzt wird?

Es ist klar, dass es massive Verwerfungen gibt, wenn Unternehmen monatelang ohne Einnahmen auskommen müssen. Selbstverständlich drohen in nächster Zeit Firmenpleiten. Das Bedauerliche ist: Anders als 2008 trifft es nicht hauptsächlich Firmen, die schlecht gewirtschaftet haben, sondern auch jene, die eigentlich alles richtig gemacht haben und grundsolide aufgestellt sind.

Angenommen, am Ende dieser Lockdown-Phase hat das Gros der Unternehmen überlebt. Die Wirtschaft könnte dann einfach wieder den Motor starten und weiter gehts. Ist das naiv?

Genau das ist das Ziel – und es ist auch nicht abwegig. All das, was die Firmen vor der Corona-Krise stark gemacht hat, ist ja nicht plötzlich weg. Es wird zwar einige Friktionen geben, die den Neustart erschweren. Wie etwa Lieferketten, die nicht sofort wieder funktionieren werden. Trotzdem werden Firmen relativ schnell wieder bei 95 Prozent des Umsatzes stehen. Allerdings: Fünf Prozent weniger Umsatz sind natürlich viel. Ganz zu schweigen von dem, was während des Lockdowns verloren geht.   

Das hört sich immerhin schon besser an als die vielen Untergangsszenarien, die man derzeit hört.

Im Prinzip haben wir das Potenzial, genauso produktiv zu sein wie vorher. Wir haben nichts an Wissen verloren, wir haben kein Kapitalstock verloren, wir haben noch immer die gleiche Infrastruktur, die gleiche Bildung und die gleichen Institutionen. Ich sehe derzeit keinen Grund, warum wir nicht wieder auf das gleiche Niveau wie vor der Coronavirus-Krise kommen sollten. Dafür muss der Übergang aber möglichst reibungslos funktionieren. Wenn der Virus erst einmal unter Kontrolle gebracht ist, wird es leichter sein, die Wirtschaft wieder in Schwung zu kriegen als etwa bei der der Finanzkrise 2008. Damals war der ganze Finanzsektor kaputt.

Bei der Finanzkrise war es ja vielmehr ein Systemversagen. Der Coronavirus ist ein externer Schock. Heisst das nicht, wir sollten viel schneller aus der Krise kommen als damals?

Der wirtschaftliche Schock ist heute insofern schlimmer, als dass wir heute sowohl einen Nachfrage- als auch einen Angebotsschock haben. Derzeit wird weder produziert noch gekauft. 2008 war die Nachfrage zumindest am Anfang ja noch da. Trotzdem ist die zugrundeliegende Struktur heute natürlich viel gesünder als damals. Es gibt aber Ausnahmen: Wir haben viele Zombieunternehmen, die sich nur dank der niedrigen Zinsen durchschlagen können. Da ist nicht immer genau ersichtlich, worin das wirtschaftlich tragfähige Geschäftsmodell liegt. Allerdings werden die Zinsen in absehbarer Zeit nicht positiv. Daher ist dieses Problem kein akutes.

Es stellt sich auch die Frage, wie lange die Regierungen ihre massiven Geldspritzen leisten können.

Die massiven Finanzhilfen sollten für die meisten westlichen Länder momentan noch kein Problem sein. Die Renditen auf Schweizer und deutsche Staatsanleihen sind ja noch immer negativ. So gesehen ist es eigentlich ein goldener Zeitpunkt für die Coronavirus-Krise. Man denke nur an die Zeiten, als die Zinsen noch acht Prozent betrugen.

Dafür steigen die ohnehin hohen Schuldenberge weiter an.

Natürlich sind die Schuldenstände in Europa vielerorts hoch. Die Schweiz steht diesbezüglich aber mit einem Schuldenstand von 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) hervorragend da. Sollte sich die Quote jetzt auf 60 Prozent erhöhen, wäre das überhaupt kein Problem.  

Also alles gut diesbezüglich?

Bald wird eine Frage wichtiger werden: Wie lange kann man politisch durchsetzen, dass 90 Prozent der Bevölkerung, die gesundheitlich nicht bedroht sind und 100 Prozent der Wertschöpfung schaffen, zuhause bleiben müssen, um die verbleibenden 10 Prozent zu schützen? Ich finde es richtig und vorbildlich, wie die Solidargemeinschaft derzeit funktioniert. Aber man kann letzten Endes die Wirtschaft nicht töten, um die 10 Prozent dauerhaft vor einem Gesundheitsrisiko zu schützen. Da muss es andere Wege geben.

Die Gesellschaft wird den jetzigen Zustand also nicht mehr lange akzeptieren?

Momentan ist das alles noch konsensfähig. Aber ohne Zustimmung der Bevölkerung ist das dauerhaft nicht machbar. Wir leben ja – glücklicherweise – nicht in einem Polizeistaat. In dem Moment, wo ein wirtschaftlicher Kollaps am Horizont erkennbar ist, kann die Stimmung in der Solidargemeinschaft ganz schnell kippen.

Warum?

Auch wenn es zynisch ist: Früher oder später werden Rechnungen darüber gemacht werden, was ökonomisch für die Gesamtgesellschaft eher von Nutzen ist. Ältere schützen und die Wirtschaft abwürgen oder die Wirtschaft wieder hochfahren und Ältere gefährden? Diese Frage kommt spätestens dann auf, wenn die Gesellschaft Einbussen in Bezug auf ihren Reichtum oder ihren Wohlstand spürt.

Das Coronavirus liess die Börsen einstürzen. Die Talfahrt im Swiss Market Index (SMI) scheint aber vorerst gestoppt. Haben wir den Boden gefunden?

Sicher ist: Solange wir am Markt noch diese massiven Kurssauschläge von bis zu 10 Prozent sehen, ist das Schlimmste noch nicht vorbei. Selbst damals in der Weltwirtschaftskrise Ende der 1920er Jahre, als die Kurse bis zu 80 Prozent einbrachen, gab es Tage, an denen die Kurse mal zehn Prozent hoch gingen. Die Wahrheit ist, dass die Unsicherheit noch so hoch ist, dass niemand weiss, was wirklich kommt.

Joachim Voth ist deutscher Wirtschaftshistoriker. Seit 2014 ist er Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Zürich. Dort ist er zudem Wissenschaftlicher Direktor des UBS Center for Economics in Society, welches 2014 ins Leben gerufen wurde.