Sollte die EU ihren Ansatz in den Verhandlungen nicht noch grundlegend ändern, werde es den sogenannten No-Deal-Brexit geben. EU-Diplomaten werteten das als reine Verhandlungstaktik. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen betonte, dass die Gespräche weitergehen - schon nächste Woche in London. Bundeskanzlerin Angela Merkel warnte, dass die Zeit langsam knapp wird.

"Die EU verhandelt nicht ernsthaft"

In seinem Londoner Amtssitz in der Downing Street sagte Johnson gegenüber Journalisten, die EU verhandele nicht ernsthaft. Sein Land müsse sich deswegen ab Januar 2021 auf eine neue Situation einstellen. Es werde wohl auf Handelsbeziehungen wie zu Australien hinauslaufen. Diese sind auf einfache Grundprinzipien für den gegenseitigen Warenaustausch beschränkt, deutlich weniger detailliert als es der EU vorschwebt. Johnson warf Brüssel vor, ein unabhängiges Land auf offensichtlich inakzeptable Weise einschränken und kontrollieren zu wollen.

Ende des Jahres läuft die Übergangszeit aus, in der Grossbritannien noch EU-Regeln anwendet. Über die künftigen Beziehungen zur Europäischen Union wird momentan verhandelt, bislang aber ohne Ergebnis. Johnson hatte hier zuletzt eine Frist bis zum 15. Oktober für eine Einigung gesetzt.

"Es ist alles nur Rhetorik", sagte ein Diplomat der Nachrichtenagentur Reuters. Johnson habe nicht erklärt, dass es keine weiteren Gespräche geben werde. Das betonte auch von der Leyen: Die EU arbeite weiter für ein Abkommen. Dem widersprach ein Johnson-Sprecher: "Die Handelsgespräche sind vorbei." Die EU habe sie de facto aufgekündigt, weil sie ihre Position nicht ändere. Bis dies geschehe, ergäben weitere Gespräche keinen Sinn.

Prognose: Drama im Oktober, Einigung im November

Merkel hofft weiter auf einen Kompromiss. "Ein Abkommen wäre in beiderseitigem Interesse", sagte sie nach dem EU-Gipfel in Brüssel. "Auch hier drängt die Zeit." Beide Seiten müssten sich bewegen. Es gehe keineswegs nur um den Streit um Fischerei-Rechte. Ähnlich äusserte sich Frankreichs Präsident Emmanuel Macron: "Wir sind bereit für einen Deal, aber nicht zu jedem Preis." Grossbritannien brauche das Abkommen mehr als die EU. Der EU-Gipfel habe den europäischen Verhandlungsführer Michel Barnier zwei weitere Wochen für Gespräche eingeräumt.

In einer Studie der US-Investmentbank Goldman Sachs hiess es, das wahrscheinlichste Szenario sei noch etwas Brexit-Drama im Oktober. Anfang November sollte es dann eine Einigung auf ein Grundgerüst für ein Handelsabkommen geben.

Experten gehen davon aus, dass die britische Wirtschaft am stärksten unter einem harten Brexit leiden würde - aber auch die exportstarke deutsche Industrie ausgebremst würde. Entsprechend kritisch beurteilten Vertreter der Wirtschaft die Johnson-Rede. Die Konsumenten auf der Insel müssten bei einem harten Brexit im wahrsten Sinne des Wortes einen hohen Preis zahlen, sagte Ian Wright vom Branchenverband für Getränke und Lebensmittel.

18-prozentige Zölle auf Importe

Es dürften im Schnitt 18-prozentige Zölle auf Importe aus der EU kommen. Mike Cherry vom Verband der Kleinunternehmen ergänzte, eigentlich müssten jetzt die Vorräte aufgestockt werden. Mitten in der Coronavirus-Krise hätten dafür viele Betriebe aber weder das Geld noch die Mitarbeiter.

Grossbritanniens Aussenminister Dominic Raab hatte am Freitagmorgen Sky News gesagt, er sei enttäuscht von der EU. "Uns wurde gesagt, dass es das Vereinigte Königreich in den nächsten Tagen sein muss, das alle Kompromisse macht." Das könne es in Verhandlungen nicht sein. Trotzdem hält er eine Einigung noch für möglich. Es gebe eigentlich nur zwei strittige Punkte, ansonsten seien sich beide Seiten nahe, sagte er der BBC. "Ein Deal sollte also möglich sein, das setzt aber guten Willen auf beiden Seiten voraus." Umstritten sind unter anderem noch, wie viele Fische EU-Länder in britischen Gewässern fangen dürfen. Ausserdem will Brüssel unbedingt gleiche Wettbewerbsbedingungen für britische und europäische Firmen durchsetzen.

(Reuters)