Eine Schweizer Digital-Asset-Bank hat kürzlich ein Picasso-Gemälde tokenisiert. Man hat für den Mindesteinsatz von 5000 Franken einen Teil des Werks erwerben können. Trägt das zur Demokratisierung der Kunst bei?

Ich arbeite mit lebenden Künstler. Mit meiner Arbeit verbinde ich, was Künstler heute mit Technologie anstellen. Damien Hirst ist ein Beispiel. In der Jetzt-Zeit gibt es aber etwa auch den jungen, deutschen Künstler Paul Kolling. Er hat ein Kunstwerk geschaffen namens "Terra0". Dort gibt es einen Wald auf einer Blockchain. Dieser Wald gehört nicht einem Menschen, sondern der Wald gehört sich selbst.

Wie geht das genau?

Das ist aus einer Dimension des Anthropozäns heraus sehr spannend. Es existiert ein Smart Contract auf einer Ethereum-Blockchain, der den Input und Output dieses Waldes reguliert. Die Initiatoren haben das Landstück erworben und dann dem Wald übereignet. Dabei geht es immer um die Interessen des Waldes. Die Beziehung des Menschen zur Natur ist oft ausbeuterisch, der Mensch nutzt die Natur aus. Hier ist es anders. Es ist spannend, wie Künstler mit dem Thema Blockchain umgehen. Von der Künstlerin Avery Singer gibt es dieses Projekt "blockchain church". Sie hat eine Blockchain-Religion begründet.

Unternehmen und Brands profilieren sich seit je mit Kunst. Mich dünkt es aber, dass diese Art von Kollaboration einen neuen Peak erreicht hat.

Barbara Steveni und John Latham gründeten in den 1960er Jahren die Artist Placement Group. Das war eine sehr visionäre Idee. Sie bestand nämlich darin, dass jedes Unternehmen und jede Regierung, also eben auch Brands, aber auch städtische Verwaltungen, einen Künstler "in residence" oder einen Künstler im Board haben sollten. Jedes Label, welches rund um den Zürcher Paradeplatz vertreten ist, arbeitet zurzeit mit Künstlern zusammen. Sie können die Strasse hoch- und runtergehen, jede Marke hier hat eine solche Kollaboration. Das war vor fünf Jahren noch nicht so.

Weshalb hat das zugenommen?

Zurzeit holen sich Brands immer öfter Künstler an Bord, um ein Projekt zu machen. Sie schaffen eine Defilee dieser Fashion-Brands. Ein Künstler macht ein T-Shirt, eine Ausstellung, ein Werk, eine Lounge, eine Tasche, eine Uhr. Man sollte aber viel tiefer gehen. Und diese Idee von Latham und Stevini aufnehmen, dass jede Firma einen Künstler im Verwaltungsrat oder in Residenz haben sollte. Dann bleibt Kunst nicht nur an der Oberfläche, sondern geht ins Zentrum des Unternehmens. Fliesst in die Philosophie ein, die Vision. Damals in den 1960er Jahren war das eine Utopie, ganz wenige Unternehmen haben sich darauf eingelassen. Jetzt nach der Pandemie sind die Bedingungen dafür gut, weil sich so viel verändern muss und Künstler dabei eine wichtige Rolle spielen können. 

Gibt es Beispiele?

Ich war vor einigen Tagen in München auf der Konferenz DLD. Dort hatte ich ein Gespräch mit dem Komponisten Hans Zimmer und der Künstlerin Es Devlin, die auch für Kanye West oder The Weeknd arbeitet. Beide Künstler arbeiten für BMW. BMW arbeitet schon länger mit Künstlern zusammen, andere machen das erst seit kurzem. 

Was können Künstler in Unternehmen bewirken?

In der Serpentine haben wir als Kunstinstitution natürlich auch Künstler im Board. Wir reden jede Woche mit ihnen, sie challengen uns, bringen uns neue Idee. Nach 18 Monaten Covid-19 wäre das doch eine gute Gelegenheit für jedes Unternehmen, sich radikal neu zu erfinden. In meinem Buch "140 Artist’s Ideas for Planet Earth", das ich zusammen mit Kostas Stasinopoulos bei Penguin herausgebracht habe, präsentieren Künstler 140 Vorschläge für die Umwelt. Darunter gibt es poetische, politische, aber auch solche, die sofort umsetzbar sind.

Es ist klar, dass Fashion-Brands nahe an der Kunst sind. Aber sollten sich auch Banken oder Industrieunternehmen einen Künstler ins Board holen?

Klar, und natürlich auch der ganze Tech-Sektor. Künstler bringen eine transformatorische Qualität. Die Schweiz könnte hier eine Vorreiterrolle spielen, weil es hier viele grosse und internationale Corporates gibt. Das Prinzip gilt aber nicht nur für Privatunternehmen, sondern auch für öffentliche Verwaltungen. Da gibt es dieses wunderbare Beispiel von Manchester. Ich bin 2006 nach London gezogen. Dann habe ich einen Anruf erhalten, dass ich mich mit Peter Saville treffen soll. Saville ist der bekannte Designer rund um Joy Vision, deren Plattencover jeder kennt. Saville wurde in seiner Heimatstadt Manchester angestellt, um die Stadt neu zu erfinden. Er wurde Creative Director von Manchester. 

Was hat Peter Saville in der britischen Stadt bewirkt?

Um Manchester neu zu erfinden, initiierte er ein Festival, an dem alles stattfinden konnte, was sonst nirgendwo Platz hatte. Beim Manchester International Festival haben alle zusammengearbeitet, die Oper, das Theater, die Museen, die Unternehmen. Die Institution brachte alles zusammen. Das brachte eine grosse Ausstrahlung. Jetzt baut OMA, das Architekturbüro von Rem Koolhaas, die "Factory" in Manchester neu. Eine solche Entwicklung kann man eigentlich jeder Stadt nur wünschen. 

Künstler haben Ihrer Meinung nach die Begabung, in einer so fluiden Welt wie heute zu vermitteln – Sie wissen das selbst am besten. Was bringt das einem Unternehmen?

Auch im Zusammenhang mit dem Thema Klimawandel gibt es dazu Möglichkeiten. Hans Zimmer erschafft jetzt einen Soundtrack für die Elektroautos von BMW. Damit kann Kunst Empathie schaffen. Sie kann einen Beitrag leisten, dass es im Endeffekt mehr Elektroautos auf der Welt gibt, dass dieser Prozess schneller geht. Kunst kann auch das Thema Kurzfristigkeit enthärten.

Was meinen Sie genau damit?

In der Politik geht es meist schon wieder um die nächsten Wahlen. Ähnliches gilt auch bei Firmen bei der nächsten Versammlung. Das ist kurzfristiges Denken. Wie kann man für Firmen und Regierungen wieder über längere Zeiträume denken? Das ist wichtig für den Klimawandel. Es geht um Empathie. Die Kunst kann zu einem Wake-up Call führen. Genau jetzt, zu einem Zeitpunkt, an dem sich Unternehmen neu erfinden müssen. 

Sie wollen also auch den Klimawandel mit Kunst adressieren? 

Wir haben bei der Serpentine ein Department für Ökologie gegründet. Wir haben nun eine Kuratorin für Ökologie. Das Thema ist bei uns jeden Tag präsent. Aber auch das Luma-Haus in Arles ist ein solches Beispiel. Es wurde von der Schweizer Philanthropin Maja Hoffmann ins Leben gerufen, welche die Luma-Stiftung gegründet hat. Ich sitze dort seit zwölf Jahren in der Programmentwicklung. Für Hoffmann war es immer wichtig, dass es nicht nur ein Ort der Kunst ist, sondern dass Kunst etwas im Bereich Ökologie bewegen kann.

Geht es den Marken darum, ihr eigenes Storytelling mit Kunst zu erweitern? Wäre es möglich, dass beispielsweise der amerikanische Digital-Art-Künstler Ian Cheng, mit dem Sie befreundet sind, im Verwaltungsrat der UBS sitzt?

Die Modedesignerin Gabriela Hearst, die jetzt für Chloé arbeitet, möchte nun eine klimaneutrale Fashion-Show organisieren. Dort reisen keine Models mehr an, es wird keine Elektrizität mehr verwendet und sie hinterfragt auch die Idee einer Kollektion. Das gilt doch auch für andere Unternehmen, bei denen man die ganzen Abläufe hinterfragen kann. 

Was erhoffen Sie sich von dieser Entwicklung?

Im besten Fall würde es zu einer kompletten Transformation führen. Das wäre die Utopie. Im am wenigsten besten Fall würde es zu einer Veränderung führen, wie Brands mit Künstlern zusammenarbeiten. Wäre ein Künstler im Verwaltungsrat, dann würde er erklären, wie man es anders machen könnte. Und dass eine Künstler-Kollaboration auch mehr als ein T-Shirt sein kann. Das wäre das Minimum. Es gibt nichts zu verlieren, weil eine radikale Transformation stattfinden muss. Wir können nicht einfach wieder in ein New Normal übergehen. Wir wissen, was vor 2019 passiert ist, zerstört den Planeten. Wie Bruno Latour sagt: "Wir müssen jetzt diese Transformation durchziehen."

Und da sollen ausgerechnet Künstler im Verwaltungsräten helfen?

Das muss nicht zwingend im Verwaltungsrat sein. Ein Künstler kann doch auch Creative Director von einer Schweizer Stadt werden wie das Peter Saville in Manchester gemacht hat. 

Künstler haben eine Carte Blanche im Unternehmen und können sich frei äussern.

Das gilt aber nicht nur für Unternehmen. Ich frage Künstler immer, was ihre unrealisierten Projekte sind. Ich habe inzwischen ein ganzes Archiv mit unrealisierten Ideen von Künstlern. Es gibt für sie verschiedenen Plattformen: Ausstellungen, Kollaborationen, Biennale, Museen, Galerien. Künstler würden aber gerne auch noch viele andere Sachen machen. 

Ich habe mir diese Frage auch für Sie aufgeschrieben, aber dachte dann, das hat schon jeder gefragt. Aber gerne: Herr Obrist, was ist Ihr unrealisiertes Projekt?

Ich habe eine Liste und das grösste Projekt wäre, eine Ausstellung über die unrealisierten Projekte zu machen. Aber immer wenn ich kurz davor bin, dann passiert wieder etwas anderes. Freunde von mir sagen, dass meine Arbeit als Vermittler zwischen den Welten im Kunstbereich noch effektiver bei einem Unternehmen oder in einer Botschaft wäre. 

Dann wollen Sie also Botschafter werden?

Die Idee des Künstlers Philippe Parreno ist, dass ich Schweizer Botschafter sein sollte, aber ich weiss noch nicht genau, ob das eine gute Idee ist (lacht). 

Hans Ulrich Obrist ist Kurator für zeitgenössische Kunst und Artistic Director der Serpentine Galleries in London. Der Ostschweizer hat neben unzählige Ausstellungen auch schon zahlreiche Bücher veröffentlicht. Das Fachmagazin "Art Review" hat ihn mehrmals auf den ersten und zweiten Platz der Liste der hundert einflussreichsten Menschen in der Kunstwelt gestellt. Daneben widmet sich Obrist aber auch dem "Interview Project", bei dem er Interviews mit Künstlern, Architekten, Filmemachern, Wissenschaftern, Philosophen und Musikern durchführt, darunter mit John Baldessari, Zaha Hadid oder Gerhard Richter. Seinen jüngsten Talk im Rahmen von UBS Artist Talk zusammen mit der Fondation Beyeler mit dem bekannten isländischen Künstler Ólafur Elíasson gibt es hier

Das Interview erschien zuerst auf handelszeitung.ch