Es war Ende Februar, als sich CompuGroup Medical zu einem ungewöhnlichen Schritt entschloss: Das Softwareunternehmen stellte Ärzten das hauseigene Programm für Videosprechstunden kostenlos zur Verfügung. Innerhalb etwa acht Wochen verhundertfachte sich daraufhin die Zahl der registrierten Nutzer auf über 80'000. Rat vom Arzt einzuholen war plötzlich wieder möglich - und zwar ohne das Risiko, sich dort anzustecken.

Das Produkt, bereits seit sechs Jahren am Markt, war bis dahin kein Selbstläufer. Der jüngste Ansturm zeigt, wie Arztpraxen und Krankenhäuser händeringend nach Wegen suchen, Patienten auch in Zeiten behandeln zu können, die Abstand verlangen. Auch in anderen Ländern wurden Videosprechstunden zu einem wichtigen Werkzeug, um das Gesundheitssystem funktionsfähig zu halten, ohne Ansteckungsrisiken zu erhöhen.

"Wir wissen aus zahlreichen Gesprächen, dass die Videosprechstunde und die Digitalisierung insgesamt einen völlig anderen Stellenwert bekommen haben", sagte CompuGroup-Vorstandschef Frank Gotthardt seinen Aktionären auf der Hauptversammlung am 13. Mai.

Coronavirus-Pandemie löst ein Umdenken aus

Gotthardt ist seit 33 Jahren im Geschäft. Der Anstoss kam von seiner Frau, einer Zahnärztin, der er bei der Verwaltung der Patientenakten und den Abrechnungen helfen wollte. Angesicht der fast 400 Milliarden Euro, die das deutsche Gesundheitssystem pro Jahr verschlingt, eigentlich ein vielversprechender Markt. Doch weil Datenschutz in Deutschland einen höheren Stellenwert als der technologische Fortschritt hat, kam die Digitalisierung nur langsam voran. Die Kontaktbeschränkungen, zu denen die Coronavirus-Pandemie in vielen Bereichen des öffentlichen Lebens geführt hat, lösen nun ein Umdenken aus.

Der Zukauf der italienischen H&S Qualitaà nel Software zu Jahresbeginn kam gerade richtig: Deren Software erlaubt Krankenhäusern, wichtige Vitalfunktionen von Patienten, die nicht stationär aufgenommen werden müssen, aus der Ferne zu überwachen. Gerade in Norditalien, wo Corona mit am schlimmsten wütete, war jeder Patient, der in seinen eigenen vier Wänden verbleiben konnte, ein Glücksfall für beide Seiten.

Jahrelang war Gotthardts Weg mühsam. Mindestens ein Jahrzehnt lang dümpelten die Umsätze seiner Firma zwischen 30 Millionen Euro und 90 Millionen Euro, der Firmensitz wurde dreimal verlegt, Aktien gelistet und wieder von der Börse genommen. Wer jedoch im März für unter 50 Euro kaufte, konnte in weniger als zwei Monaten 50 Prozent Kursplus verbuchen. Gotthardt, mittlerweile 69, zählt mit seinem Anteilsbesitz von gut einem Drittel der Aktien inzwischen als Milliardär.

Umsatzmilliarde spätestens 2023

Nun soll auch das Unternehmen die Milliardenschwelle beim Umsatz erreichen - und womöglich schneller, als Analysten das bisher erwarten. Finanzvorstand Michael Rauch sagte im Interview, die Marke könne in zwei oder drei Jahren erreicht sein, wenn CompuGroup noch ein oder zwei Transaktionen wie die im Februar angekündigte tätige. Damals hatten die Koblenzer gemeldet, dass sie der Cerner Corporation für 225 Mio. Euro Krankenhaussoftware in Spanien und Deutschland abkaufen.

"Wir sehen gute Chancen, mit Akquisitionen die weissen Flecken in unserem Angebot zu schliessen", so Rauch. "Ich gehe stark davon aus, dass wir die Umsatzmilliarde spätestens 2023 erreichen. Wir haben die Ambition, schnell zu wachsen."

Vorsorglich wurde bereits die Rechtsform des Unternehmens geändert, um Kapitalerhöhungen zu erleichtern. Auch die Profitabilität soll steigen - in Richtung 30 Prozent in den nächsten fünf Jahren.

Das Ziel ist die Digitalisierung des Gesundheitssystems

Das grosse Ziel käme indes näher, wenn Patienten ihre sämtlichen Daten den Leistungserbringern des Gesundheitssystems digital zur Verfügung stellen könnten und Überweisungen, Befunde, Rezepte und Rechnungen elektronisch ausgetauscht werden könnten. Entsprechende Feldversuche laufen.

Das hätte in der aktuellen Pandemie bereits von Nutzen sein können. Infektionsherde wären womöglich früher geortet und Komplikationen schneller erkannt worden, wenn heute schon Patientendaten zu Covid-19 - natürlich anonymisiert - zusammengeführt und ausgewertet werden könnten. Doch die Mühlen mahlen langsam. Die elektronische Patientenakte, gefordert bereits 2001 nach dem Lipobay-Skandal, als ein Cholesterinsenker der Bayer aufgrund von Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten mit 100 Todesfällen in Verbindung gebracht wurde, soll nun endlich am 1. Januar - 20 Jahre später - kommen.

"Die Akzeptanz von Telematik in der Medizin war in der Vergangenheit enttäuschend, aber das könnte sich jetzt ändern," fasst Baader-Analyst Knut Woller die Aussichten zusammen.

(Bloomberg)