Die Anleger setzen auf einen Erdrutschsieg, bei dem Joe Biden US-Präsident Donald Trump aus dem Weissen Haus verdrängt und seine Partei zusätzlich beide Kammern des Kongresses erobert. In Anspielung auf die Parteifarbe der Demokraten sprechen Börsianer hier von einem "Blue-nami", einem "Blauen Tsunami".

Fiskalpaket in Höhe von fünf Billionen US-Dollar

"Höhere Steuern unter Biden verlieren ihren Schrecken durch das Versprechen steigender Staatsausgaben im kommenden Jahr", sagt etwa Mark Dowding, Chef-Anleger des Vermögensverwalters BlueBay. "Sollten die Demokraten einen durchschlagenden Sieg erringen, könnten wir uns eine Biden-Regierung vorstellen, die ein Fiskalpaket in Höhe von fünf Billionen US-Dollar verabschiedet und damit die derzeitige Forderung von 2,2 Billionen US-Dollar, der die Republikaner ihre Zustimmung verweigern, in den Schatten stellt."

Dowding taxiert die Wahrscheinlichkeit eines Erdrutsch-Sieges der Demokraten auf 60 Prozent. Sein Kollege Mark Haefele von der Vermögensverwaltung der Bank UBS sieht sie bei 50 Prozent, deutlich vor allen anderen Varianten. Einer jüngsten Reuters/Ipsos-Umfrage zufolge hat Joe Biden seinen Vorsprung in wichtigen, hart umkämpften US-Bundesstaaten ausgebaut. Selbst die bisherige Konservativen-Hochburg Texas könnte an die Demokraten gehen. Gleichzeitig deutet sich bei einigen der zur Wahl stehenden Senatsposten wie in Georgia ein Kopf-an-Kopf-Rennen an. Derzeit haben die Republikaner dort eine Mehrheit von 53 Sitzen, wobei zwei Senatoren keiner der beiden Parteien angehören.

Auch Ulrich Stephan, Chef-Anlagestratege für Privat- und Firmenkunden bei der Deutschen Bank, rechnet nach einem klaren Wahlsieg der Demokraten mit einem "sehr grossen Fiskalpaket". "Das Wachstum könnte dort dann ebenso steigen wie die Anleihe-Renditen."

Marko Behring, Chef der Vermögensverwaltung bei der Fürst Fugger Privatbank, verweist in diesem Zusammenhang auf die Bilanzen der demokratischen Präsidenten Bill Clinton und Barack Obama. "Unter Clinton ist der S&P 500-Index um 210 Prozent gestiegen und unter Obama um 182 Prozent. Wirtschaftsfeindlichkeit sieht anders aus." Das Plus des S&P 500 während Trumps Amtszeit beläuft sich derzeit auf etwa 68 Prozent.

Steuererhöhungen vs. Investitionen

Analyst Konstantin Oldenburger vom Online-Broker CMC Markets lobt Bidens Steuerpläne als progressiv. "Höhere Steuern für Unternehmen und Besserverdiener kompensiert durch massive Konjunkturausgaben und Investitionen, die ihrerseits durch eine höhere Kaufkraft der meisten Amerikaner die Umsätze ankurbeln – so schlecht klingt die Aussicht auf einen demokratischen Präsident Joe Biden nicht." Investoren wetten dabei vor allem auf einen ökologischen Umbau der Wirtschaft. So legte der börsennotierte Solarwerte-Fonds (ETF) des Anbieters Invesco in den vergangenen vier Wochen gut 30 Prozent zu - knapp zehn Mal so stark wie der S&P 500. Die Experten der Bank of America sehen darin einen Hinweis auf die Erwartung eines "Blue-nami".

"Wenn Biden dann noch ein Regierungsteam aufstellt, dessen Mitglieder zur politischen Mitte zählen, wird das ebenfalls als positiv gewertet werden", sagt Portfoliomanager Dickie Hodges vom Vermögensverwalter Nomura. Ausserdem setzten Investoren auf eine zumindest teilweise Entspannung bei den Handelsstreitigkeiten, schrieben seine Kollegen vom Vermögensverwalters Amundi. "Ein Präsident Biden würde wahrscheinlich wieder ein etwas freundschaftlicheres Verhältnis zur EU suchen."

"Ein solches Szenario könnte die Bären – wie pessimistische Anleger genannt werden – ab November in den Winterschlaf schicken", prognostiziert Olivier de Berranger, Chef-Anleger des Vermögensverwalters La Financiere de l’Echiquier. "Allerdings sollte uns der überraschende Wahlausgang von 2016 stets eine Mahnung sein, dass das Fell des Bären nicht verteilt werden sollte, bevor er erlegt wurde."

(Reuters)