Wenn Olaf Scholz und Emmanuel Macron am Donnerstag auf dem EU-Gipfel in Brüssel von ihrer Reise nach Kiew berichten, wird auf den ersten Blick alles wie immer sein: Die Staats- und Regierungschefs der beiden grössten EU-Staaten briefen den Rest der EU-27 und geben den Takt vor.

"Aber sowohl Frankreich als auch Deutschland befinden sich derzeit wegen ihrer Russland-Kontakte eher in der Defensive in der EU", sagt Ronja Kempin, Frankreich-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik zu Reuters (SWP). Vor allem der französische Präsident, der nach dem Abtritt von Angela Merkel zunächst den Eindruck der informellen Nummer 1 in der EU vermittelte, wirkt seit der Schlappe seiner Partei bei den französischen Parlamentswahlen angeschlagen. Ausgerechnet jetzt forderte SPD-Chef Lars Klingbeil in einer Grundsatzrede von Deutschland "Führung" ein.

Bremsen für Macrons Ideen

Ganz unglücklich scheint man beim engsten Partner Deutschland jedenfalls nicht über einige Kratzer am Image des erst 44-jährigen Strahlemanns in Paris zu sein - auch wenn SPD-Chef Klingbeil offen bedauerte, dass der Präsident seine absolute Mehrheit im Parlament verloren hat. Offiziell gibt sich die Bundesregierung zurückhaltend. Regierungssprecher Steffen Hebestreit verweist nur darauf, dass das persönliche Verhältnis zwischen Präsident und Kanzler "eng, vertrauensvoll und gut" sei und dies auch so bleiben werde. Inoffiziell heisst es in Teilen der Regierung in Berlin aber auch: "Das Wahlergebnis hat seine guten Seiten."

Ein angeschlagener Macron könne seine weitfliegenden fiskalpolitischen Reformen in der EU nicht mehr so gut durchsetzen, heisst es an einer Stelle. Andere in der Regierung verweisen darauf, dass der russische Angriff auf die Ukraine Macrons Träume einer sicherheitspolitischen Souveränität Europas ohne die USA hat zerplatzen lassen. Das kommt der Bundesregierung gelegen, die traditionell neben dem EU-Pfeiler auch auf die enge transatlantische Partnerschaft setzt. "Ich habe deshalb Zweifel an der 'Eitle-Sonnenschein'-Erzählung", meint SWP-Expertin Kempin.

Ohnehin wirkt Macron auf EU-Ebene ausgebremst. Seine Idee einer neuen politischen europäischen Gemeinschaft nährt in Osteuropa den Verdacht, dass er die Erweiterung der EU um Länder auf dem Westbalkan oder die Ukraine in Wahrheit eher bremsen will. Sein Wunsch nach EU-Vertragsänderungen stösst nicht nur in Berlin auf Skepsis, die Reform des Stabilitätspaktes stockt. Dazu kommt die selbst in Paris als unglücklich empfundene Äusserung Macrons in der Russland-Politik, als er plötzlich trotz des massiven russischen Dauerangriffs auf das Nachbarland davon sprach, dass man Russland nicht "demütigen" dürfe.

Ziemlich beste Freunde

Die harmonischen Fotos aus dem Nachtzug nach Kiew täuschen deshalb etwas. "Alle wissen, dass das Verhältnis zwischen Scholz und Macron nicht das beste ist", sagt etwa Bernd Hüttemann, Generalsekretär der Europäischen Bewegung in Berlin. Zu unterschiedlich sind die Charaktere des extrovertierten Macron und des hanseatisch zurückhaltenden SPD-Politikers. Zudem gibt es in Paris Zweifel an Scholz, der seit seinem Amtsantritt als Kanzler wenig Neigung zeigt, die von Frankreich gewünschte erneute Kreditaufnahme der EU-Kommission wie in der Corona-Krise zu fördern. Dass die Bundesregierung mit den 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr amerikanische F35-Jets für die sogenannte nukleare Teilhabe kauft, verstärkt in Paris die Sorge, dass Deutschland nicht hinter der Entwicklung eines europäischen Kampfflugzeuges (FCAS) steht - allen Dementis zum Trotz.

"Scholz ist eben Scholz", hiess es ernüchtert in französischen Regierungskreisen. Macron werde weiter Führung zeigen können, weil kein anderer Politiker eine echte Agenda für Europa habe, meint Georgina Wright vom Institut Montaigne. Macron verstärkte etwa mit Draghi eine neue französisch-italienische Partnerschaft. Der italienische Aussen-Staatssekretär Benedetto Della Vedova beschreibt ihn als "den Staatschef mit der meisten Erfahrung". Wirkliche Dynamik hat das französisch-italienische Paar aber noch nicht entwickelt.

Mögliche Krise im deutsch-französischen Tandem?

Dennoch winken sowohl Offizielle in Berlin als auch in Paris ab, wenn sie auf eine mögliche Krise im deutsch-französischen Tandem angesprochen werden. Es sei normal, dass es Meinungsverschiedenheiten gebe - der Mehrwert liege gerade darin, dass Berlin und Paris einen Kompromiss erzielten, heisst es auf beiden Seiten. Und Scholz und Macron, die sich seit langem kennen, seien erfahren genug, um den Zwang zu deutsch-französischen Einigungen zu kennen.

Regierung und SWP-Expertin Kempin verweisen darauf, dass man nun abwarten müsse, wie Macron mit dem neuen Parlament zusammenarbeite. Da lauern Fallstricke, obwohl der Präsident in der Aussenpolitik relativ frei agieren kann. Eine Allianz mit den Konservativen könnte etwa zu Korrekturen in der Finanzpolitik führen. Wechselnde Mehrheiten bei einzelnen Projekten würde ihn ebenfalls zu Kompromissen zwingen, sagt Kempin. Als schlechtester Fall wird auch in der Bundesregierung angesehen, wenn die rechtsradikale Marine Le Pen Oppositionsführerin würde und über einen Vorsitz im Haushaltsausschuss der Nationalversammlung die französische Politik erschweren könnte.

Nötige Kompromissfindung

Hüttemann sieht in der nötigen Kompromissfindung aber auch eine Chance - für Frankreich, Deutschland, aber nicht unbedingt Macron. In Frankreich werde es eine parlamentarische Korrektur eines zu stark präsidial geprägten Systems geben. "Und wenn die Parteien an Gewicht gewinnen, bietet sich für die deutsche Politik die Möglichkeit, auch über diese Einfluss auf den Elysee auszuüben", sagt er.

(Reuters)