DocuSign zeigt es exemplarisch. Die Aktie des kalifornischen Softwareunternehmens für elektronische Vertragsabschlüsse im Juni wegen verfehlter Gewinnerwartungen nachbörslich um 24 Prozent abgestürzt. Schon Anfang Dezember 2021 war der Kurs wegen eines enttäuschenden Ausblicks an einem einzigen Handelstag um fast 40 Prozent abgesackt. Wer vor einem Jahr DocuSign kaufte, hat über drei Viertel Prozent des Einsatzes verloren. "Cut Your Losses", also die Verluste zu begrenzen, wird zur Überlegung. 

Gern verwendet man einen Gedanken daran nicht. Anlegerinnen und Anleger neigen dazu, an einer solchen Aktie festzuhalten. Es wird ihnen ja auch immer wieder gesagt, Kaufen-und-Halten sei die goldene Regel. Doch von ausgerechnet von Warren Buffett, dem Grossmeister von "Buy-and-Hold", stammt der Ausspruch: "Das allerwichtigste ist, dass wenn man sich in einem Loch wiederfindet, man aufhören soll, zu graben." 

"Unterirdisch" sind im schwierigen Börsenjahr 2022 die Kurse bei vielen Aktien. Auch noch vor wenigen Monaten (und manchmal auch jetzt noch) gehypte Aktien wie jene von Netflix, Paypal, Zoom oder Coinbase liegen massiv unter ihrem individuellen 52-Wochen-Hoch. Und gerade wegen der Hypes dürften nicht wenige Anlegerinnen und Anleger diese Aktien zu einem Zeitpunkt gekauft haben, der sich zwischenzeitlich als "nahe dem historischen Höchstwert" erwiesen hat. 

Irrige Annahmen

An Verlierer-Aktien festzuhalten hat zunächst psychologische Gründe. Man spricht gern über Kursgewinne und verschweigt Verluste lieber. Noch schlimmer: Vor sich selber gibt man nicht gerne zu, eine Aktie gekauft zu haben, die viel Kurswert verloren hat. 

Zudem liegt dem Halten von Verlierer-Aktien die Annahme zugrunde, dass sich die Kurse langfristig nach oben bewegen. Dies stimmt, und ist die weiterhin gültige Grundannahme, für den Gesamtmarkt. Für einzelne Aktien trifft die Prognose nur bedingt zu.

Dann gibt es Traderinnen und Trader, die glauben, einen Titel mindestens so lange halten zu müssen, bis das Preislevel wieder erreicht ist, zu dem eine Aktie gekauft wurde. Man will den Fehler so ungeschehen machen. Doch eine valable Strategie ist dies nicht. Was dabei fehlt, ist der Blick für das Gesamte. Wer im grösseren Stil und längerfristig am Finanzmarkt und auch in Einzeltitel investiert, wird unweigerlich Verluste haben. Auf diese muss man sich von Anfang an einstellen und auch bereit sein, einen Fehler zuzugeben und aus ihm zu lernen - selbst wenn dies heisst, einen Verlust schmerzhaft zu "realisieren", wie es in der Fachsprache heisst. 

Profis steigen schneller aus

Nur: So, wie sich der Markt letztlich nicht "timen" lässt, ist der Zeitpunkt für einen Ausstieg nur schwer zu finden. Es gibt Finanzblogs oder Youtube-Channels, wo eine Zahl genannt wird. Bei 7 oder 10 Prozent Verlust soll blind verkauft werden, heisst es dort. Doch dies ist wenig seriös. 

Profis steigen allerdings eher früher als später aus. Sie legen bestimmte Punkte fest, bei denen sie Aktien verkaufen. Charttechnisch eingestellte Investoren orientieren sich beispielsweise an so genannten Unterstützungslinien. Das sind Kursniveaus, die ein Wertpapier nicht unterschreiten sollte. Geschieht dies dennoch, halten Charttechniker weitere Verluste für sehr wahrscheinlich. 

Privatanlegerinnen und -anleger können sich damit behelfen, dass sie sich bei Aktien Stop-Loss-Marken setzen. Auf einer Trading-Plattform werden Verkäufe automatisch ausgeführt, wenn man sie vorgängig definiert. Durch den Verkauf eines Wertpapiers, das im Kurs sinkt, werden wieder Mittel frei. Denn um unsinniges Festhalten an Verlust-Aktien zu vermeiden, darf man nicht nur auf eine oder bestimmte Aktien fixiert sein. Diversifikation ist ein bewährtes Mittel des langfristigen Anlegens. Doch eine breite Streuung von Aktien entlässt einem letztlich nicht aus dem Dilemma, ob eine einzelne, verlustreiche Aktie abgestossen werden soll oder nicht. 

Ehrlich zu sich selber sein

Im Endeffekt hilft nur brutale Ehrlichkeit. Wurde eine Aktie einfach zu teuer gekauft? Wenn eine grosse Zahl an Berichten da sind, dass eine Aktie oder ein Segment zu einem früheren Zeitpunkt hoffnungslos überbewertet waren, dann sollte man dies ernst nehmen. Fragt man sich, ob man eine Aktie heute noch kaufen würde, und die Antwort ist ein klares "Nein": Dann ist verkaufen die sauberste Lösung.  

Bei Überlegungen, ob man Verluste begrenzen soll, muss auch deren Gegenstück betrachtet werden, die Gewinne. Der gesamte Merksatz auf englisch lautet: "Cut Your Losses and Let Your Profits Run." Allzu ängstliche Marktteilnehmer neigen nicht nur dazu, Verluste auszusitzen, sondern sie nehmen auch schnell Gewinne mit. Und bei schwankenden Märkten braucht es auch für gut laufende Aktien gute Nerven. 

Die Fallhöhe spielt auch eine Rolle

Mal ganz konkret. Soll man also in der aktuellen Marktlage DocuSign und Co verkaufen? So ein Software-Unternehmen ist gemäss allem, was bekannt ist, nicht am Ende. Und der Kurs dürfte bei guten Quartalsabschlüssen, erfolgreichen Produkt-Lancierungen oder gar im Falle von Übernahmegerüchten wieder zulegen. 

Bei den hochbewerteten Technologieaktien, vor allem aus dem US-Index Nasdaq, ist nach den Höchstständen im vergangenen Jahr und den teils massiven Kursrückgängen seither die Euphorie einer nüchterneren Betrachtung gewichen. Die Kurshöhenflüge sind erst einmal vorbei. Die Aktie von DocuSign müsste um das Fünffache steigen, um ihren Höchstkurs wieder zu erreichen. Anfang September 2021 war das Papier noch 310 Dollar wert und wird jetzt für knapp 60 Dollar gehandelt.

Über diese "Fallhöhe" muss man nachdenken, wenn man sich überlegt, eine allem Anschein nach zu teuer gekaufte Aktie wieder loszuwerden.