Die deutsche Automobilbranche steckt in der Krise. Der Hochlauf der Elektromobilität und die Konkurrenz aus China haben zum Abbau tausender qualifizierter Arbeitskräfte geführt. Diese fassen jetzt einen Sektor ins Auge, der gar nicht schnell genug neue Mitarbeiter einstellen kann: die Rüstungsindustrie.

Seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine vor über zwei Jahren hat das Schicksal der deutschen Waffenhersteller eine überraschende Wendung genommen. Einst mit «sündigen Branchen» wie der Tabak- und Glücksspielindustrie in Verbindung gebracht, gelten diese Firmen heute als attraktive potenzielle Arbeitgeber — vor allem, wenn sie der Ukraine bei der Verteidigung helfen.

Das Unternehmen Hensoldt aus Taufkirchen bei München stellt Sensoren zur Luftverteidigung her, die für die Abwehr russischer Raketen in der Ukraine entscheidend sind. Es verzeichnet einen Zustrom neuer Mitarbeiter, hauptsächlich Ingenieure, die zuvor in der Automobilindustrie tätig waren.

«Wir profitieren beim Aufbau unserer Belegschaft von den Problemen in anderen Branchen», sagt der ehemalige Vorstandsvorsitzende Thomas Müller, der im April von Oliver Dörre abgelöst wurde. Das Unternehmen plant, in diesem Jahr 700 neue Mitarbeiter einzustellen.

Ukraine-Krieg treibt Entwicklung

Ein grosser Teil des Vorstosses, mehr Arbeitskräfte einzustellen, hat mit den massiven Herausforderungen für die Ukraine zu tun. Laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj kommen auf jede ukrainische Artilleriegranate zehn russische und dem Westen gelingt es nicht, den Bedarf schnell genug zu decken.

Rheinmetall, Deutschlands grösste Waffenschmiede, rechnet in diesem Jahr mit einem Umsatz von mehr als 10 Milliarden Euro im Vergleich zu etwa 7 Milliarden Euro im Jahr 2023. Das Unternehmen plant, seine jährliche Produktion von Artilleriegranaten bis 2025 auf 700'000 Schuss zu erhöhen. Das ist zehnmal so viel Munition wie noch vor dem russischen Einmarsch. Seit Anfang 2022 hat das Unternehmen weltweit rund 4000 neue Mitarbeiter eingestellt, und die Zahl der Bewerbungen ist sprunghaft angestiegen.

Im vergangenen Jahr bewarben sich allein in Deutschland rund 108'000 Menschen auf eine Stelle bei Rheinmetall, sagte der Vorstandsvorsitzende Armin Papperger bei der Bilanzpressekonferenz im März. In diesem Jahr sind bereits etwa 38'500 Bewerbungen eingegangen — der Düsseldorfer Konzern ist somit auf dem besten Weg, die Zahlen aus 2023 zu übertreffen.

Beim Getriebehersteller Renk haben sich die Bewerbungen seit 2021 mehr als verdoppelt, und diese Zahl wird 2024 noch weiter steigen, sagt Personalchefin Brigitte Schnakenbourg. Auch die Qualität der Bewerbungen habe sich verbessert, fügt sie hinzu. «Wir erhalten viel mehr Initiativbewerbungen von Personen mit hervorragenden Profilen», sagt sie.

Schnakenbourg hat bei Renk zwar noch keinen Ansturm von Transfers aus der Automobilbranche erlebt, doch angesichts des Personalabbaus in der Autobranche und der neuen Attraktivität des Rüstungssektors könnte es nur eine Frage der Zeit sein, bis das passiert.

Lohn ist besser

Das Gefühl, einen Beitrag zur Sicherheit zu leisten, ist nicht der einzige Grund, warum Fachkräfte sich für die Verteidigungsindustrie interessieren: Laut Gehalt.de ist die Bezahlung mit einem Durchschnittsbruttoverdienst von rund 68'000 Euro besser als in anderen Bereichen. «Die Menschen finden hier sichere Arbeitsplätze, weil die Branche boomt», so Schnakenbourg.

Renk hat vor kurzem Chief Operating Officer Emmerich Schiller eingestellt, der über 25 Jahre in Führungspositionen bei Mercedes-Benz tätig war, unter anderem als geschäftsführender Direktor der Sportwagensparte Mercedes-AMG. In seiner neuen Funktion wird Schiller die Aufgabe haben, die Produktion zu skalieren, weil das Auftragsvolumen steigt.

Die Rüstungsbranche «entspricht nach Jahrzehnten im ‘Dornröschenschlaf’ derzeit in der Produktion nicht dem modernen industriellen Massstab», sagt er.

Fachkräfte aus dem Automobilsektor sind darauf trainiert, in kurzer Zeit eine grosse Zahl qualitativ hochwertiger Produkte herzustellen, und verfügen über die notwendigen Fähigkeiten, um die Verteidigungsindustrie in einer Zeit beispielloser Expansion zu unterstützen. «Es liegt also nahe», so Schiller, «dieses Know-how zu übertragen.»

Mehr Anerkennung

Der deutsche Rüstungssektor wird wegen seiner Rolle im Ukrainekrieg und bei der Verteidigung Europas zunehmend als wichtig für das Gemeinwohl angesehen.

«In den letzten 30 Jahren wollten Mitarbeiter der Verteidigungsindustrie lieber nicht öffentlich sagen, wo sie arbeiten», so ein Sprecher von Hensoldt. Das hat sich seit 2022 radikal verändert. «Heute steht unser Sektor nicht mehr in der Schmuddelecke», sagt der ehemalige Hensoldt-CEO Müller.

(Bloomberg)