Wenn die Zinsen fallen, steigen die Aktienkurse. Stimmt das? Von der Beantwortung dieser Frage hängt unter Umständen die Entwicklung des Aktienmarkts im laufenden Jahr ab. Denn derzeit scheint es relativ unwahrscheinlich, dass die Notenbanken die Zinsen weiter anheben. Sowohl die Konjunktur als auch die Inflation schwächeln, steigende Zinsen sind da nicht nötig. Ganz im Gegenteil. Mehr und mehr scheinen sich die Experten Gedanken über eine Zinswende zu machen. Auch in der Schweiz. So ist die Inflation in der Schweiz im Februar auf den niedrigsten Stand seit Oktober 2021 gesunken. Gemessen am Vorjahreszeitraum stiegen die Verbraucherpreise im Februar lediglich noch um 1,20 Prozent. Die Februar-Teuerung lag damit klar innerhalb des Zielbandes der Schweizerischen Nationalbank (SNB), die einen Preisanstieg zwischen null und zwei Prozent anpeilt. Die neuen Inflationsdaten geben Spekulationen Nahrung, dass die SNB bereits bei ihrer nächsten Sitzung am 21. März den Leitzins senken könnte.
Der Börse in Zürich haben die Zinssenkungsfantasien zuletzt ordentlich geholfen. Der SMI ist von 10‘400 Punkten im Oktober 2023 auf über 11‘400 Punkte im Februar geklettert. Wenn die Zinsen fallen, steigen die Aktienkurse – scheint also zu stimmen.
Kein Automatismus
Dennoch stellt sich die Frage, ob fallende Zinsen quasi automatisch und unmittelbar zu steigenden Aktienkursen führen. Dass rückläufige Zinsen grundsätzlich für Aktien gut sind, hat vor allem folgenden Grund: Je niedriger die Zinsen, desto höher der heutige Barwert einer Aktie. Der Barwert errechnet sich aus den zukünftigen Gewinnen je Aktie eines Unternehmens unter Berücksichtigung der Zinsen. Der Barwert wird rechnerisch dadurch ermittelt, dass die in der Zukunft anfallenden Gewinne auf den heutigen Wert abgezinst und aufaddiert werden. Rechnet ein Unternehmen beispielsweise damit, in zehn Jahren einen Gewinn von 1‘000 Franken zu erzielen, beträgt der heutige Barwert des Unternehmens bei einem Zinssatz von fünf Prozent knapp 614 Franken. Liegt der Zins aber bei null Prozent, beträgt der Barwert 1‘000 Franken.
Das heisst, je niedriger die Zinsen, desto höher das Kurspotenzial an der Börse. Oder um es einmal etwas laxer zu formulieren: Je weiter die Zinsen fallen, desto höher kann es am Markt gehen. Dahinter steckt natürlich kein Automatismus. Letztendlich sind es immer noch Menschen, die Kaufentscheidungen treffen. Ob sie fallende Zinsen als Kaufsignal wahrnehmen oder nicht, hängt von vielen weiteren Faktoren ab. Und die scheinen einen erheblichen Einfluss auf die Kursentwicklung am Markt zu haben. In der Vergangenheit hat sich nämlich gezeigt, dass Aktienkurse keineswegs in dem Moment anfangen zu steigen, wenn die Zinsen fallen.
Nehmen wir zum Beispiel den Zeitraum Oktober 2008 bis Anfang 2009. Damals wurden die Zinsen von der SNB in mehreren Schritten von 2,75 auf 0,50 Prozent gesenkt. Der SMI benötigte aber vom Moment der ersten Zinssenkung an bis zu seinem Tief rund fünf Monate. Damals sackte er sogar nahezu parallel zu den Zinssenkungen ab, von etwa 6‘500 Punkten im Oktober 2008 auf unter 4‘500 Punkte im März 2009. Erst dann konnte sich der Markt fangen und wieder nach oben drehen.
Zinssenkungen können auch belasten
Die zeitverzögerte Reaktion auf die Zinssenkungen kann vielleicht so erklärt werden: Zum einen brauchen die Unternehmen eine gewisse Zeit, bis sie von dem günstigeren Zinsumfeld profitieren und es in steigende Gewinne umsetzen können, die sich dann positiv an der Börse niederschlagen. Denn etwa Kredite, die in Hochzinsphasen aufgenommen wurden und mit entsprechend hohen Rückzahlungszinsen verbunden sind, enden nicht sofort, wenn die Zinsen fallen. Die Unternehmen müssen ihre Schulden umschichten und mit den Banken günstigere Konditionen aushandeln. Das dauert.
Zum anderen: Ist eine Zinssenkungsphase eingeläutet, könnte das zumindest kurzfristig eben nicht den Konsum und die Wirtschaft befeuern, sondern genau den gegenteiligen Effekt haben, nämlich dann, wenn die Akteure – Konsumenten und Unternehmen – mit weiteren Ausgaben warten. Denn wenn alle wissen, dass die Kredite in den kommenden Monaten billiger werden, dann wird abgewartet – nötige kreditfinanzierte Ausgaben und Investitionen werden vielleicht einfach noch mal um einige Monate verschoben. Eine solche Entwicklung erinnert an deflationäre Phasen, in denen fallende Preise zu rückläufigem Konsum führen, weil alle warten. Und wenn das passiert, kann die Konjunktur gerade durch die fallenden Zinsen noch einmal einknicken. Ein Kreislauf entsteht, aus dem die Konjunktur erst herauskommt, wenn Unternehmen und Konsumenten davon ausgehen, dass die Zinsen unten sind und weiteres Abwarten nicht lohnt. Dann kann die Konjunktur sich wieder erholen, und die Börse profitiert davon.
So war es in der Vergangenheit. Trotz Zinssenkungen seit Oktober 2008 schwächelte das Bruttoinlandsprodukt in der Schweiz noch einige Monate. Erst im zweiten Quartal 2009 war eine Verbesserung festzustellen. Die sich daran anschliessende konjunkturelle Erholung wurde an der Börse mit steigenden Kursen quittiert.
Es gibt kein Drehbuch
Kann die Entwicklung in der Vergangenheit hilfreich für die aktuelle Situation sein? Ja und nein. Jede historische Situation ist einzigartig. Die Lage 2008 und 2009 war anders als heute. Die Inflation etwa, heute Hauptanlass für die hohen Zinsen, spielte damals kaum eine Rolle. Damals wurden die Zinsen gesenkt, weil ein scharfer Rückgang des Wirtschaftswachstums, ausgelöst unter anderem durch das Platzen der berühmt-berüchtigten „Immobilien-Blase“ in den USA aufgefangen werden musste, die in Europa zu einer Staats- und Finanzschuldenkrise ausuferte, mit entsprechend negativen Folgen für das Wachstum.
An der Börse gibt es kein Drehbuch, letztendlich ist also ungewiss, was 2024 passieren wird. Setzen wir aber voraus, dass die Zinsen im neuen Jahr tendenziell eher fallen und die Konjunktur 2023 ihren Wendepunkt gesehen hat, hätten wir für 2024 zumindest eine interessante Konstellation, die in der Vergangenheit, bei allen Unterschieden, oft zu steigenden Kursen an der Börse geführt hat – aber nicht selten eben zeitverzögert.
Was also tun? Auch wenn Anleger das Szenario einer Konsolidierung am Markt im Hinterkopf haben sollten, ein Ausstieg bietet sich nun nicht an. Stattdessen ist eine verstärkte Ausrichtung des Portfolios auf jene Branchen zu empfehlen, die einerseits von rückläufigen Zinsen profitieren, aber auch mit einer vorrübergehenden Abschwächung der Konjunktur gut zurechtkommen – und das trifft beispielsweise auf die Bereiche Lebensmittel, Telekommunikation und Pharma zu. Auf Aktienseite sind hier unter anderem Unternehmen wie Nestlé, Unilever, Swisscom, Orange, Novartis und Roche zu erwähnen.
Beitrag von «BNP Paribas Exchange Traded Solutions Switzerland»