cash.ch:  Am nächsten Sonntag bestimmt die Schweiz ein neues eidgenössisches Parlament. Wie sehr, glauben Sie, entscheiden Wählerinnen und Wähler in der Schweiz bei diesen Wahlen nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten?

Louis Perron: Dieses Jahr ist die Wirtschaft ein Nebenschauplatz. Dies ist bemerkenswert, da in vielen anderen Ländern die Wirtschaftslage der zentrale Punkt ist. In den USA ist dies häufig so - wenn es gut läuft, gewinnen jene, die schon an der Macht sind, wenn es schlecht geht, wählt man eine neue Equipe. In der Schweiz ist es anders: Man wählt relativ ideologisch.

Grüne und Grünliberale, denen Stimmengewinne vorausgesagt werden, preisen sich aber auch als Wirtschaftsparteien und nicht als reine Ideologen. Wird grün wählen heute weniger als Gegensatz zu wirtschaftlichen Interessen gesehen als früher? Hat es da einen Wandel gegeben?

Da hat sich massiv etwas verändert. Notabene das Entstehen und der Erfolg der Grünliberalen Partei, die grün und zugleich wirtschaftsliberal sein will, unterstreicht dies. Und auch die FDP ist mit ihrem Schwenk in der Klimapolitik auf diesen Zug aufgesprungen. Aufmerksam habe ich zur Kenntnis genommen, dass die FDP in der Zwischenzeit Lenkungsabgaben zumindest nicht als wirtschaftsfeindliches Instrument bezeichnet.

Wie gross ist dennoch die Tendenz bei Wählergruppen, links zu wählen und letztlich, in der Konsequenz, dafür weniger Wachstum in Kauf zu nehmen?

Es gibt Leute, die relativ gut verdienen und es für richtig erachten, einen aktiven Sozialstaat und eine aktive Umweltpolitik zu unterstützen. Dies hat viel mit dem Wohlstand zu tun. Wie diese Haltung in einer Wirtschaftskrise bestehen würde, die früher oder später kommen wird, ist eine andere Frage.

Als urbaner Start-up-Unternehmer setzt man vielleicht nicht mehr auf die Bürgerlichen, als Kleingewerbler auf dem Land wohl viel eher: Gibt es in Fragen der wirtschaftspolitischen Entscheidungen einen Stadt-Land-Graben? Eine neue, mehr und mehr digitalisierte und international verknüpfte Wirtschaft gegen eine traditionelle Wirtschaft?

Der Stadt-Land-Graben – allgemein, nicht nur in der Schweiz – ist einer der am meisten unterschätzten Gräben, wenn es darum geht, politisches Verhalten zu erklären. Es gibt auch in der Schweiz einen Teil der Wirtschaft, der auf den Binnenmarkt konzentriert ist, und einen, der mehr auf die Aussenwirtschaft konzentriert ist. Und diese haben zum Teil unterschiedliche Interessen.

Tiefe Steuern für Unternehmen wie individuelle Einkommen sind eine Grundmaxime der Bürgerlichen. Aber gibt es Gesellschaftsschichten, die das nicht mehr so wichtig finden und der Ansicht sind, mehr Steuern und mehr Staat bringe mehr Lebensqualität?

Ob man wirklich bereit dazu ist, mehr Steuern zu zahlen, würde man noch sehen. Niemand zahlt gerne Steuern. Umgekehrt lässt sich aber sagen, dass der Leidensdruck nicht extrem hoch ist: In der Schweiz ist die Steuerbelastung im Vergleich zu anderen Ländern für viele noch einigermassen erträglich. Das 'Preis-Leistungs-Verhältnis' bei den Steuern ist aus Sicht der meisten Leute noch im Rahmen. In den USA beispielsweise erzielen Forderungen nach Steuersenkungen eine ganz andere Resonanz als in der Schweiz.

Aber bei den Krankenkassen - dort zahlt man keine Steuern, aber Prämien - werden die Beiträge als hoch empfunden. Beeinflusst dieser wirtschaftliche Aspekt die Leute?

Ja, dort ist der Leidensdruck im Mittelstand angekommen. Nur hat in der Gesundheitspolitik niemand eine Lösung dafür, und schon gar keine, die politisch realisierbar und mehrheitsfähig ist.

Führt nun aber dieser Leidensdruck dazu, dass das Prinzip der Eigenverantwortung - nicht nur bei den Gesundheitskosten, sondern beispielsweise auch in der Vorsorge - an Gewicht verliert?

Es gibt sicher einen Trend, dass zwar viel von Eigenverantwortung gesprochen, die Idee aber generell weniger gelebt wird.

Haben bürgerliche Parteien im Vergleich zu früheren Wahlen diesmal mehr Mühe, glaubwürdig als Wirtschaftsparteien wahrgenommen zu werden?

Das kann man schon so sagen. Die Wirtschaft, wie ich sagte, wird insgesamt weniger als Thema wahrgenommen, sondern eher das Klima. Zudem ist beim viel zitierten und inszenierten bürgerlichen Schulterschluss zwischen SVP, FDP und CVP, und der Mehrheit von FDP und SVP im Nationalrat, wenig herausgekommen. Der Grundtenor lautet, dass es eine eher enttäuschende Legislatur war – auch aus Wirtschaftskreisen. Dies gibt wenig Rückenwind.

Die SVP dürfte wählerstärkste Partei bleiben, ihr werden aber Stimmenverluste vorausgesagt. In den Medien wird die SVP weniger als früher als Wirtschaftspartei gesehen, vor allem wegen ihrer ambivalenten Haltung zu den bilateralen Verträgen. Aber ist die SVP wirklich so «wirtschaftsunfreundlich»?

Beim Wirtschaftsthema gibt es bei der SVP einen Graben zwischen Parteielite und den Wählerinnen und Wählern. Bei Abstimmungen wie damals der Abzockerinitiative oder Unternehmenssteuerreform III stimmten viele SVP-Wähler nicht mit der Parteiführung – sie sind kritischer zu Grosskonzernen. Die Parteiführung kann dennoch weiter auf ihre Basis zählen, weil sie diese bei den Themen EU und Ausländer nach wie vor abholt.

Ist dieses komplexe Verhältnis der SVP zur Wirtschaft ein Grund für den nicht wirklich erfolgten Schulterschluss der Bürgerlichen in der nun ablaufenden Legislatur?

Die SVP nimmt sich als grösste bürgerliche Partei häufig selber aus dem Rennen. Sie bewirkt im Rat relativ wenig, weil sie nicht koalitionsfähig ist. Das Verhandlungsgeschick und die Koalitionsfähigkeit der Parteiführungen sind in der Schweiz aber mindestens so wichtig wie der Wähleranteil. Auch nach diesen Wahlen wird es im Parlament wechselnde Allianzen geben.

Gehen Sie mit Blick auf den kommenden Sonntag vom reihum prognostizierten «Linksrutsch» aus?

Man wird sehen, ob dieser Linksrutsch kommt, und wie gross und nachhaltig er sein wird. Grundsätzlich ist das Verhältnis zwischen den Blöcken in der Schweiz über die Jahre extrem stabil geblieben. Was sich in den Umfragen abzeichnet, wäre zuerst auch eine Art 'Korrektur' des Rechtsrucks der Wahlen von 2015.

Also ist Ihrer Ansicht nach auch nicht davon auszugehen, dass das nächste Parlament weniger wirtschaftsfreundlich sein wird als das bisherige?

Eine total andere Politik beziehungsweise Wirtschaftspolitik wird es nicht geben. Ausserdem spielen nicht allein die Mehrheiten im Nationalrat eine Rolle, denn es werden Gesetze ja immer von National- und vom Ständerat verabschiedet. Aber auch in der Schweiz wird Politik volatiler.

2015 dominierte die Flüchtlingspolitik, 2019 das Klima – wird 2023 wieder einmal die Wirtschaft das zentrale Thema sein?

Who knows? Ein Monat ist in der Politik eine lange Zeit, erst recht vier Jahre. Die Klimafrage ist auch erst durch die Debatte des CO2-Gesetzes im Parlament und durch Greta Thunberg dieses Jahr zum Thema geworden. Wenn es hingegen eine Wirtschaftskrise geben wird, dann werden logischerweise auch wirtschaftliche Fragen wie Arbeitslosigkeit und Wettbewerbsfähigkeit wieder wichtiger.