Mit der Teuerung verhält es sich derzeit ähnlich wie mit der Sommerhitze. (Bild: Shutterstock.com/rawf8)
Mit der Teuerung verhält es sich derzeit ähnlich wie mit der Sommerhitze. (Bild: Shutterstock.com/rawf8)

Der US-Verbraucherpreisindex hat im Juni um 1,3% zugelegt, der zweitgrösste monatliche Anstieg der letzten 40 Jahre. Gegenüber dem Vorjahr betrug die Teuerung 9,1%, so viel wie seit 1981 nicht mehr. Der Kernindex legte um 5,9% zu. Diese Zahlen lagen deutlich über den Markterwartungen. "Uns haben sie hingegen nicht überrascht", sagt Brad Tank, CIO Fixed Income bei Neuberger Berman. Er fügt an: "Viele Beobachter rechnen mit einem baldigen Rückgang der Teuerung. Wir nicht: Wir glauben, dass die Inflation bis zum Jahresende weiter steigt. Für die Kernrate in den USA erwarten wir etwa 6% zum Vorjahr im Dezember 2022 und einen Rückgang auf 3,25% im Dezember 2023. Damit sind unsere Erwartungen vergleichsweise hoch. Und mehr noch: Wir gehen von einer hartnäckigeren Teuerung aus als der Marktkonsens." Aber warum eigentlich? Und was könnte das für die Geldpolitik und Staatsanleiherenditen bedeuten?

Teuerung uf breiter Front

Zunächst einmal falle auf, wie umfassend der Preisauftrieb mittlerweile ist. 97% des Warenkorbs haben sich in den letzten drei Monaten verteuert, und bei mehr als 40% haben die Preise in den letzten sechs Monaten aufs Jahr hochgerechnet um mindestens 6% zugelegt. Der "Trimmed Mean"-Inflationsindex der Federal Reserve Bank of Cleveland, der die Güter und Dienstleistungen mit der höchsten und der niedrigsten Inflation herausrechnet, notiert auf einem Allzeithoch.

Wie umfassend der Preisauftrieb ist, sieht man laut Tank auch an den fünf grössten Gütergruppen des Index. Bei einigen ist die Inflation hoch und geht allmählich wieder zurück, bei anderen steigt sie weiter. Besonders stark ist die Lebensmittelpreisinflation. Sie dürfte weiter zunehmen, bis vielleicht Anfang 2023 nachlassende Lieferstörungen einen schnellen Rückgang in Aussicht stellen. Auch bei den Gütergruppen des Kernindex könnten die Engpässe dann nachlassen. Die Energiepreise könnten schwanken: Das Angebot ist äusserst knapp, aber eine Rezession könnte die Nachfrage dämpfen. Wichtige Dienstleistungen (ohne Wohnen) könnten sich hingegen weiter verteuern. Die Nachfrage nach Reisen steigt nicht mehr, aber im Gesundheitssektor legen die Preise weiter zu.

"Den stärksten Anstieg erwarten wir aber bei den Wohnkosten, wegen des generellen Personalmangels und des noch immer sehr starken Lohnanstiegs. Hier war die Inflation auch in der Vergangenheit oft sehr hartnäckig. Jetzt dämpft die straffe Geldpolitik in den USA zwar den Immobilienabsatz, aber noch nicht die Preise. Bis weit in die zweite Jahreshälfte 2023 hinein rechnen wir mit einem Anstieg der Wohnkosten um über 6%", erläutert der CIO Fixed Income bei Neuberger Berman weiter.

Noch schwieriger in Europa

In Europa könnte der Umgang mit der Inflation seiner Meinung nach noch schwieriger werden. Die EZB hat sehr viel später als die Fed mit der Straffung der Geldpolitik begonnen, die ausserdem sehr viel expansiver war. Auch der Lohnanstieg habe gerade erst begonnen, und es gebe Anzeichen für Streiks. Wegen der Nähe zu Russland sei der Energiemarkt hier besonders angespannt. Letzte Woche drängte die Europäische Kommission die EU-Mitgliedsstaaten, ihren Gasverbrauch um 15% zu senken. Vor wenigen Tagen hob die EZB ihren Leitzins um 50 Basispunkte an, und die Bank of England erwägt Ähnliches für ihre Sitzung am 4. August.

Mean Reversion

"Unserer Ansicht nach unterschätzt der Marktkonsens die Breite des Preisauftriebs, also die Zahl der betroffenen Gütergruppen und Regionen. Die Aussicht auf Mean Reversion überschätzt er hingegen, vor allem bei Rohstoffen. Die Hoffnung, dass hohe Preise das beste Rezept gegen hohe Preise sind, scheint trügerisch", gibt Tank zu bedenken.

Offensichtlich stütze sich der Glaube an Mean Reversion zu einem grossen Teil auf die Fundamentaldaten – wachsende Rezessionsrisiken, eine mögliche Stabilisierung der Weltlage und nachlassende Lieferengpässe. Eine Rolle spielten aber auch die Terminmärkte, die in zwölf Monaten einen Ölpreis von etwa 83 USD je Barrel erwarten.

Bei Neuberger Berman hält man Terminpreise, die so weit in der Zukunft liegen, nicht für besonders aussagekräftig, zumal die Handelsvolumina sehr niedrig sind. Andererseits müsse man zugeben, dass sich die Kurse amerikanischer inflationsindexierter Anleihen (TIPS) ohne die Terminkurve kaum erklären lassen. Dem TIPS-Markt zufolge soll die Inflation Ende 2023 nur 2,4% betragen.

Restriktivere Geldpolitik

Was bedeutet das aber für die Leitzinsen? Wegen der Höhe und Hartnäckigkeit der Inflation werde die Fed ihren Leitzins deutlich über den aus ihrer Sicht neutralen Wert anheben (bei dem die Geldpolitik die Konjunktur weder dämpft noch fördert) und ihn dann einige Zeit dort lassen müssen. Am Markt rechne man zurzeit mit einem langfristigen neutralen Leitzins von etwa 2,25% bis 2,50%. Aus der Sicht von Neuberger Berman ist das zu wenig. "Wir meinen, dass die Fed ihre Zinsen auf 3,25% bis 3,75% anheben muss, und zwar spätestens im 1. Quartal 2023", sagt Tank. Wie lange wird die Fed dann bei diesem restriktiven Zinsniveau bleiben? Am Markt glaube man jetzt, dass es länger dauern wird, aber nur etwas. Noch immer rechne man mit einem Leitzinsmaximum von höchstens 3,5% und einer ersten Zinssenkung schon im 2. Quartal 2023.

"Wir sehen das anders und rechnen mit einer restriktiveren Geldpolitik – es sei denn, die Konjunktur bricht massiv ein, der US-Arbeitsmarkt lässt stark nach, und der Inflationsdruck verflüchtigt sich in der zweiten Jahreshälfte. Ebenso halten wir es aber für denkbar, dass die Inflation am Ende hartnäckiger ist, als selbst wir angenommen haben, sodass die Fed den Leitzins auf 4,0% bis 4,5% erhöhen muss", sagt Tank und fährt fort: "Die Wahrscheinlichkeit dieser Extremszenarien setzen wir jeweils mit beachtlichen 20% an. Auch deshalb halten wir eine Prognose der US-Zehnjahresrendite auf Zwölfmonatssicht für so schwierig. Sie kann unserer Ansicht nach zwischen 2,75% und 3,50% liegen. Selbst ein dauerhafter Anstieg in Richtung 4% scheint denkbar, wenn die Wirtschaft der Rezession entgeht und die Kerninflation weiter deutlich über 4% liegt. In den letzten Wochen schien die Temperatur mit der Inflation korreliert. Aber während die Hitze im Herbst vorbei ist, gilt das für die Inflation nicht unbedingt. Viele Investoren scheinen nicht darauf vorbereitet zu sein", meint Tank.

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