China überholt die USA und wird 2014 die grösste Wirtschaftsmacht der Welt. Das ergibt süffige Schlagzeilen. Es ist nicht ganz falsch, aber eben auch nicht ganz richtig. Und vor allem, es trägt nichts bei zum Verständnis der Volkswirtschaft im Allgemeinen und der chinesischen Ökonomie im Besonderen.

Trendige Kommentatoren und wirtschaftsunkundige China-Experten läuten bereits das "Chinesische Jahrhundert" ein. Sie schwadronieren munter von der "Neuen Weltordnung" und von der neuen "Supermacht des 21. Jahrhunderts". Was die im Mai in einem Weltbank-Bericht veröffentlichten Zahlen über das kaufkraftbereinigte (Purchasing Power Parity PPP) Bruttoinlandprodukt (BIP) zeigen, ist jedoch lediglich, dass China in den letzten 35 Reformjahren aufgeholt hat. Und zwar schnell. Gewiss, das ist eine grosse Leistung, die in der Geschichte ihresgleichen sucht. Die Armut ist fast besiegt. Noch nie ging es den Chinesen und Chinesinnen in ihrer langen Geschichte so gut wie heute.

Doch noch ist viel zu tun. Unter rund zweihundert Staaten und Regionen liegt China gemessen am BIP pro Kopf der Bevölkerung erst auf dem 99. Platz, hinter - notabene - etwa Libyen, Aserbeidschan oder Surinam. Die USA haben den derzeitigen Standard Chinas bereits vor über 80 Jahren erreicht. Chinas BIP, berechnet nach Wechselkurs in Dollar, ist gar immer noch 43 Prozent kleiner als jenes der USA. Die statistische PPP- oder BIP-Messlatte zeigt einiges, allerdings nicht zwingend den Unterschied der wirtschaftlichen Grösse zwischen einer voll entwickelten Industrie- und Dienstleistungsnation und einem in rasanter Entwicklung begriffenen, auf Export und Infrastruktur basierenden Schwellenland. Schliesslich vergleicht man auch nicht Äpfel mit Mangos.

Wachsende Kluft zwischen Arm und Reich

China ist, wie die roten Mandarine in Peking der staunenden Welt immer wieder klar zu machen versuchen, noch immer ein "Entwicklungsland". Auch das ist natürlich nur die halbe Wahrheit. Genauso wenig wie es "den" chinesischen Markt gibt, existiert "die" chinesische Wirtschaft. Der reiche Küstengürtel etwa ist auf dem Sprung vom Schwellenland zu einer voll entwickelten kapitalistischen Wirtschaft oder, wie es parteiamtlich heisst, einer "sozialistischen Marktwirtschaft mit chinesischen Besonderheiten". Die inneren und westlichen Provinzen dagegen sind eher Entwicklungsgebiete. Dazu kommt die wachsende Kluft nicht nur zwischen Stadt und Land sondern, selbst in den prosperierenden Grossstädten, zwischen Arm und Reich.

Da Wirtschaft zwar wichtig, aber nicht alles ist, sind auch andere, im BIP nicht enthaltene Faktoren massgebend. Diese werden berücksichtigt im Human Development Index (HDI) des Uno-Entwicklungsprogramms (UNDP). Die neue, zusätzliche Messlatte wurde vom indischen Ökonomen Amartya Sen und dem pakistanischen Ökonomen Mahbub ul Haq entwickelt und berücksichtigt unter anderem Lebenserwartung, Erziehung, Umwelt und Einkommen. Hier belegte die Volksrepublik im vergangenen Jahr Rang 101 (Norwegen 1, USA 3, Schweiz 9, Liechtenstein 24, Russland 55, Indien 136). Mithin ergeben erst das BIP kaufkraftbereinigt und nach Wechselkurs kombiniert mit dem Entwicklungsindex ein akkurates Bild. Das Bild allerdings ist komplex und damit schwierig zu lesen und eignet sich kaum für fetzige Schlagzeilen, wie eben: "China überholt Amerika".

Wachstum um jeden Preis ist vorbei

Während im Westen analytisch unscharf die wirtschaftliche und immer mehr auch die militärische Macht China dämonisiert wird, haben die roten Mandarine im Jahre 36 der wirtschaftlichen Reform und Öffnung nach Aussen ganz andere Sorgen. Staats- und Parteichef Xi Jinping, seit anderthalb Jahren an der Macht, muss ein neues Wirtschaftsmodell zum Wohle des Landes in die Tat umsetzen. Wachstum um jeden Preis ist vorbei. Vielmehr soll das neue Wachstum "nachhaltig", das heisst die Umwelt schonend und Kreativität freisetzend sein. Die Zeiten, als nach Reformübervater Deng Xiaoping pragmatisch der "Fluss überquert wird, und dabei immer die Steine an den Fusssohlen zu spüren sind" gehören der Vergangenheit an. Nach Xi hat Chinas Reformprozess jetzt vielmehr das "tiefe Wasser des Ozeans" erreicht.

Die Herausforderung für Chinas Politbüro sind enorm. Ungleich seinen Vorgängern hat Partei-Supremo Xi Jinping mit einer immer grösser werdenden Mittelklasse von je nach Definition mehreren hundert Millionen auf der einen und mit rund 300 Millionen ländlichen, immer selbstbewusster werdenden Wanderarbeitern zu tun. Überdies ist das Internet, insbesondere die sozialen Medien eine Bedrohung für die parteiliche Deutungshoheit und das Informationsmonopol. Um sein neues Entwicklungsmodell durchzusetzen - also weg von Exportabhängigkeit und Infrastrukturinvestitionen hin zu mehr Konsum - wird Xi Jinping die Interessen alteingesessener Seilschaften in den Staatsbetrieben und in der Verwaltung verletzen. Das ist nicht ganz ungefährlich. Doch  Xi hat bereits eine in der Volksrepublik beispiellose Anti-Korruptions-Kampagne entfacht. Dabei geht es nicht, wie betont wird, nur um die Kleinen, die "Fliegen" sondern auch um "Tiger", also die Mächtigen. Gleichzeitig versucht die Partei, Dissens auf allen Ebenen in der realen wie in der virtuellen, digitalen Welt gnadenlos zu unterdrücken.

«Blauer Himmel und klares Wasser»

Keine 18 Monate nach Machtantritt gilt Xi Jinping bereits als mächtigster Chef seit dem grossen Revolutionär und Reformer Deng Xiaoping. Der charismatische Xi weiss, worauf es ökonomisch und politisch ankommt.  Er unterstreicht die führende Rolle der Innovation bei der Entwicklung. Chinas in ein "Land mit blauem Himmel und klarem Wasser". Chinesinnen und Chinesen hören das gern und blicken hoffnungsvoll in den oft noch trüben Himmel und die noch trüberen Gewässer. Doch der Chef erwartet schnelle Resultate. Bis ins Jahr 2020 - zwei Jahre vor seinem geplanten Rücktritt - sollen die ehrgeizigen Ziele erreicht sein.