Die vierte Plenarsitzung des 18. Zentralkomitees ist nach vier Tagen zu Ende gegangen. Die Schlusserklärung ist reich an hehren Prinzipien und arm an Details. Wie immer jedoch wird es Wochen und Monate dauern, bis der Nebel sich lichtet, und konkrete Massnahmen nach und nach ersichtlich werden. Wenn überhaupt. Das ist nicht weiter verwunderlich, denn China zu regieren, bedarf komplexer Mechanismen.

Schon Deng Xiaoping und danach alle Parteichefs der letzten 25 Jahre haben sich abgearbeitet an der zentralen Frage, wie das Zentrum sich gegen die Peripherie durchsetzen kann. Zwar wird China autoritär durch die KP regiert, doch Gesetze, Entschliessungen und Dekrete werden oft in der Provinz, im Kreis, in der Präfektur und im Dorf nicht oder nur schleppend und halbpatzig durchgesetzt. Auch jetzt beim vierten Plenum wurde deshalb der Führungsanspruch der Partei, im konkreten Fall im Rechtswesen, wieder mit Nachdruck unterstrichen. Parteioffiziell liest sich das so: „Der sozialistische Rechtsstaat muss die Führung der Partei stärken und die Führung der Partei muss sich auf die sozialistische Rechtsstaatlichkeit verlassen können“.

Schlusserklärung zum Thema Rechtsstaat

Die Schlusserklärung der Plenarsitzung, die sich erstmals ausschliesslich dem Thema Rechtsstaat widmete, skizziert die generelle Linie. Die Pflicht zur Rechenschaft von Entscheidungsträgern, eine grössere Rolle der Verfassung im Justizsystem, eine Reduktion der administrativen Eingriffe ins Rechtssystem oder erstmals der Vorschlag von überregionalen Gerichten und Staatsanwaltschaften sind in den Beschlüssen enthalten. Das alles mündet auf Partei-Chinesisch in eine „Sozialistische Rechtsstaatlichkeit chinesischer Prägung“. Im Schluss-Communiqué wird das schon fast poetisch so umschrieben: Zu schaffen sei „eine soziale Atmosphäre, in der die Einhaltung der Gesetze heldenhaft und deren Missachtung schändlich ist“.

Die Partei versucht damit, breiten Unwillen im Volk über offensichtliche Missstände zu begegenen. Enteignete Bauern, unbezahlte Farbrikarbeiter, zu Unrecht vor Gericht Gezehrte oder Verurteilte, Umweltverschmutzung, kaum vorhandene soziale Rettungsnetze (Krankenkassen oder Renten) und vieles mehr – sogar die staatlich kontrollierten Medien sind voller Geschichten, in denen diese  Übel dargestellt und kritisch hinterfragt werden. Die amtliche Nachrichten-Agentur Xinhua (Neues China) kommentiert: „Fairness ist die Lebensader des Rechtsstaates“.

Wie soll das alles aber in Praxi umgesetzt werden? Einige Hinweise sind bereits in der Schlusserklärung zu erkennen. Die Richter und Staatsanwälte sollen zum Beispiel besser geschult und auch besser bezahlt werden. Damit könnten Eingriffen auf lokaler Ebene, vor allem von Parteikadern auf unterer und unterster Ebene – den „kleinen Kaisern“ – ein Riegel geschoben werden. Vieles hat sich seit 1997 schon verbessert, als am 15. Parteitag „die Herrschaft des Rechtes“ erstmals als Strategie-Ziel verabschiedet und zwei Jahre später in die Verfassung aufgenommen worden ist. Ausgediente Militärs und Polizisten ohne jede juristische Ausbildung arbeiten nicht mehr wie früher im Justizsystem. Bereits im vergangenen Jahr wurde „Erziehung durch Arbeit“ abgeschafft, das heisst Wegsperren ohne Gerichtsurteil. Und ein Todesurteil eines Lokal- oder Provinzgerichtes muss nun zwingend vom Obersten Gericht geprüft werden.

Es geht um viel

Die Chinesinnen und Chinesen haben dem Ausgang des Plenums mit einiger Spannung entgegengesehen. Es geht um viel. China steht nach 35 erfolgreichen Reformjahren an einer Wende, d.h. von der Export-, Investitions- und Schuldengetriebenen Wirtschaft zu einem Modell mit mehr Innovation, Produktivität, Binnennachfrage und Konsum. Die Lösungen sind umso schwieriger, als – parteioffiziell – die Wirtschafts-Reformen „eine kritische Phase in einem auch international komplizierten und schwierigen Umfeld“ erreicht haben. Noch nie seien die Risiken und Herausforderungen für die Parteiführung so gross gewesen.

Natürlich ist „The Rule of Law“ westlicher Prägung mit dem von China angestrebten „sozialistischen Rechtsstaat“ nicht zu vergleichen. Gewaltenteilung zum Beispiel gibt es im Chinesischen System nicht. Die Partei hat das letzte Wort. Dennoch: China bewegt sich in der richtigen Richtung. „Renmin Ribao“ (Volkszeitung), das Sprachrohr der Partei, schreibt: „Eine faire, transparente und unabhängige Justiz sind feste Bestandteile eines modernen Rechtsstaates. Das weiss auch Chinas Kommunistische Partei“. Der Partei nämlich ist Volkesstimme nicht verborgen geblieben. Ohne minimale Rechtssicherheit keine soziale Harmonie und wenig Aussicht auf erfolgreiche Wirtschaftsreformen. Jedes Land, so die chinesische Überzeugung, müsse jedoch aufgrund der eigenen Geschichte und der eigenen Gegebenheiten handeln.

Anders formuliert: was in China durchaus mit einem gewissem Erfolg praktiziert wird, ist nicht Herrschaft des Rechts sondern Herrschaft durch das Recht.