Die Schweiz hat Post bekommen – ein „kohärentes  Paket an Reformen zur Sicherung der Standortattraktivität und eines breiten Einkommenswachstums“. Absender ist die Denkfabrik Avenir Suisse. In der Tat steckt in dem Paket einiges an Denkarbeit drin. Etwa in der Aufschlüsselung der monatlichen Ausgaben und Einnahmen eines durchschnittlichen Schweizers im arbeitsfähigen Alter.

Danach werden von den 6300 Franken Einkommen 1610 Franken für Steuern und 1810 Franken für Sozialversicherungen ausgegeben. Für diese 3410 Franken erhält der Durchschnittsverdiener 1730 Franken in Form von staatlichen Leistungen  wie Schulen, Verkehr usw. zurück und 1690 Franken in Form von Transfers wie AHV, 2. Säule, Arbeitslosenversicherung usw. 

Das las man so noch nie. Unter dem Strich bleibt die Erkenntnis, dass zwar im Schnitt nur 2880 Franken Einkommen nach Steuern (45.7% des Gesamteinkommens) übrig bleiben, dass aber das frei verfügbare Einkommen 4570 Franken beträgt, und somit gut drei Viertel (genau 72,5%) des Einkommens ausmacht. Schliesslich können wir auch über die Transferzahlungen frei verfügen, auch wenn sie auf „Zwangsabgaben“ beruhen. Wir arbeiten also – um den bekannten Vergleich zu bemühen -  nicht bis Mitte Juli nur für den Staat, sondern bloss bis Anfang April.

Kapitalgewinnsteuer für Private

Bemerkenswert ist auch der Vorschlag, eine Kapitalgewinnsteuer für Privatpersonen einzuführen. Dass haben die Medien von der Avenir Suisse  offenbar so wenig erwartet, dass niemand den Vorschlag aufgegriffen hat. Viellicht liegt es auch daran, dass dieser Punkt – mit Rücksicht auf die Geldgeber? – nur ganz beiläufig präsentiert wurde.

In einem entscheidenden Punkt hat der Thinktank jedoch zu wenig scharf nachgedacht. Im Zentrum des Vorschlags stehen nämlich „die vermehrte Ausrichtung der  Besteuerung auf den Konsum  und die Entlastung der individuellen Ersparnisse und Investitionen.“ Dahinter steckt offenbar die Idee, dass mehr Ersparnisse mehr Investitionen und mehr Investitionen mehr Wachstum bedeuten. Von einer Denkfabrik hätte man erwarten dürfen, dass man diese These einem Realitäts-Check unterzieht, bevor man sie zur Grundlage eines ausgefeilten Vorschlages macht.

Ein  solcher Test zeigt ganz klar, dass zumindest in der Schweiz die Ersparnisse sicher nicht der begrenzende Faktor der Investitionen sind, zumindest nicht der privaten. Hierzulande erzielen nämlich nicht nur die Privathaushalte laufend Nettofinanzierungüberschüsse - was historisch gesehen normal ist. Seit bald zwanzig Jahren spart zudem auch der Unternehmenssektor Jahr für Jahr deutlich mehr als er investiert. Beide Sektoren zusammen erzielen jährlich rund 60 bis 70 Milliarden Franken Nettofinanzierungsüberschüsse. Sie könnten ihre Investitionen theoretisch um rund 70 Prozent erhöhen, ohne sich – insgesamt – mehr verschulden zu müssen. Wie unter diesen Umständen steuerliche Entlastungen zu mehr Investitionen führen, bleibt schleierhaft. Vermutlich hat sich der ThinkTank nie die Mühe genommen, diese Umstände zu kennen.

Wir sparen zu viel

Wenn die Schweiz ein Problem hat, dann liegt es genau in der entgegengesetzten Richtung: Wir sparen viel zu viel.  Die Nationalbank muss das ausbaden, indem sie die Sparüberschüsse (mit dem Kauf ausländischer Anleihen) sterilisiert und so einen starken Anstieg des Frankens verhindert. Die Avenir Suisse könnte die SNB bei dieser schweren Aufgabe unterstützen. Zu diesen Zweck müsste bloss die Bestandteile ihres Steuerpaket neu zusammensetzten und zwar so, dass die Sparer bestraft und die Konsumenten belohnt werden. Das versprochene “breite Einkommenswachstum“ würde damit sogar noch wesentlich breiter, denn von einer weniger sparsamen Schweiz würden auch unsere Handelspartner profitieren.