Zufällig war ich gerade im Gläubigerland in den Ferien, als das Schuldnerland die Wahlen verpatzte. Die Empörung über das, was Italien damit den Deutschen angetan hatte, war gross und einhellig. Anders als die Mehrheit der Italiener wissen offenbar die deutschen Medienschaffenden und Politiker genau, was Italien braucht. Sogar der "Allgäuer Anzeiger" ist offenbar im Besitz dieses Wissens. Es sei zu bezweifeln, schrieb er, "dass die neue Regierung die Kraft und den Mut hat, die dringenden Reformen durchzusetzen". Diese Befürchtung teilt offenbar auch ein Kommentator der ARD. Er verlangte unverzügliche Neuwahlen - und war mit dieser Forderung nicht allein. Die Italiener sollen einer europatreuen Spar-Koalition um Monti und Bersani zu einer klaren Mehrheit verhelfen.

Deutschlands Aussenminister Guido Westerwelle stellte sich auf den Rechtsstandpunkt, Italien müsse seine Sparverpflichtungen gegenüber der EU einhalten. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück beschimpfte Italiens Wahlsieger Silvio Berlusconi (30 Prozent) und Beppe Grillo (25 Prozent) als "Clowns". In der FAZ stellte Anton Börner, seines Zeichens Präsident des Bundesverbands Grosshandel, Aussenhandel, Dienstleistungen (BGA) aus dem Stand ein ganzes Regierungsprogramm für Italien zusammen: "Italien muss... ferner braucht das Land... auch ist insbesondere…" usw. Und vor allem müsse "der Druck von aussen noch erhöht werden, mit dem Ziel, die  zwingend notwendigen Reformen umzusetzen".  

Allerdings habe ich keinen einzigen Kommentar gelesen, der analysiert hätte, was denn in Italien punkto Arbeitsmarktreform und Sparanstrengungen schon gemacht worden ist und welche zusätzlichen Reformen denn noch Wachstum und Beschäftigung bringen könnten - und warum. Analyse ist offensichtlich nicht gefragt. Die Forderungen an die Adresse Italiens sind vielmehr moralisch begründet: Als Gläubiger hat man das Recht, von den Schuldnern Opfer zu verlangen. Dabei ist allerdings noch nicht einmal klar, ob und inwieweit Italien überhaupt gegenüber Deutschland verschuldet ist.  Italien ist immerhin Nettozahler in der EU und die Schulden des italienischen Staates werden weitgehend von reichen Italienern und nicht von deutschen Steuerzahlern gehalten.

Und immer wieder wird den Euro-Südländern Deutschlands "vorbildliche" Arbeitsmarktpolitik - die Agenda 2010 - um die Ohren geschlagen. "Am Arbeitsmarkt zeigt sich, wie gut die Wirtschaftspolitik eines Landes ist", meint etwa die FAZ. Und sie präzisiert, zuhanden von François Hollande, der dies offenbar nicht begreifen will: "Dazu braucht es aber einen guten Rahmen aus flexiblen Arbeitsmärkten, investitionsfördernden Steuern und massvollen Tarifabschlüssen."

Die faktische Grundlage dieser Behauptungen wird nicht nachgeliefert. Sie ist im besten Fall dünn, wenn nicht inexistent. Gemäss den neusten Zahlen ist Deutschlands Beschäftigung zwar im vergangenen Jahr um 0,8 Prozent gestiegen. Dies aber nur deshalb, weil die durchschnittliche Arbeitszeit pro Job um 1,6 Prozent gesunken ist. Die Deutschen arbeiten also keineswegs mehr, sondern weniger, aber die Arbeit verteilt sich auf mehr Köpfe. Dass tiefe Löhne zu mehr Investitionen führen, die FAZ Frankreichs Präsident Hollande weis machen will, trifft ebenfalls nicht zu. Zwar zahlen Deutschlands Unternehmer in der Tat mit 68 Prozent der Wertschöpfung mehr Lohn aus als die Franzosen mit nur 61 Prozent. Aber sie sind bei den Investitionen mit bloss 16 Prozent auch knausriger als Frankreichs Unternehmen, die immerhin 19 Prozent investieren.

Doch es gibt noch Hoffnung: Ein Blick in die Leserbriefspalten deutet an, dass sich die öffentliche Meinung in Deutschland offensichtlich nicht mit der veröffentlichten, geschweige der regierungsoffiziellen Meinung deckt. Sogar die relativ gut betuchten Leser der FAZ sind skeptisch: "Die Franzosen sollten gleich mit Hartz V anfangen. Wir legen dann mit Hartz VI nach. Dann kommen die Franzosen wieder mit Hartz VII und so weiter und so fort. Das Spiel treiben wir so lange, bis wir uns alle gegenseitig zugrunde gerichtet haben“, höhnt Einer. Ein Anderer bemerkt, "dass die unsozialen Beschäftigungsverhältnisse ein planungssicheres Dasein verunmöglichen" und ein Dritter schliesst seine bittere Analyse gar mit einem verkappten Aufruf zum Widerstand: "Aber der deutsche Michel arbeitet gern für nichts und wieder nichts, anstatt sich zu wehren.“

Europa ist also noch nicht ganz verloren. Zumindest in den Völkern scheint noch ein Restbestand von Vernunft und gegenseitiger Achtung vorhanden zu sein.