Vor fünf Wochen habe ich hier die These vertreten, dass die Schweiz auch mit dem geforderten Mindestlohn von 4000 Franken (bzw. rund 20 Franken pro Stunde) nicht teurer produziert als Deutschland, wo zur Zeit ein Mindestlohn von 8,50 Euro zur Diskussion steht. Meine ausführlich recherchierte Begründung: Die minimalen Kosten  des Lebensunterhalts betragen in Deutschland auf die Arbeitsstunde umgerechnet rund 18,50 Euro. Zahlt ein Arbeitgeber nur 8,50 oder weniger, muss der Staat die Differenz mit Hartz IV, Sozialgeld, Wohngeld und anderen Zuschüssen ausgleichen. Unter dem Strich, so mein Argument, ist das deutsche System einer ausufernden Arbeits- und Sozialbürokratie teurer als unser System mit relativ hohen Marktlöhnen.

Eine ausführlicherer Fassung meiner cash-Kolumne habe ich auch auf dem Ökonomenportal www.oekonomenstimme.org publiziert. Das hat mir eine Menge Kritik eingebracht - die teilweise auch sachlich war. So hat mich ein deutscher Leser darauf aufmerksam gemacht, dass ich in meinem Rechenbeispiel das Wohngeld nicht richtig auf eine vierköpfige Familie hochgerechnet habe. Korrigiert man diesen Fehler, sinken die volkswirtschaftlichen Kosten der deutschen Billigarbeit von 18,50 auf 15,60 Euro. Andererseits wurde ich auch darauf aufmerksam gemacht, dass ich die Kosten der Sonderzahlungen für Sozialhilfeempfänger weit unterschätzt habe. Leider habe ich dazu keine verlässlichen Zahlen gefunden.  Unter dem Strich bleibt die begründete Vermutung, dass die deutschen Arbeitgeber rund die Hälfte der im Niedriglohnbereich anfallenden Lohnkosten auf den Staat überwälzen. Davon betroffen sind weit über 8 Millionen Arbeitnehmer.

Die häufigste Kritik an meinem Text war jedoch der Vorwurf, dass der von mir errechnete „kostendeckende“ oder „verursachergerechte“ Mindestlohn Millionen von Jobs vernichten würde. Wer, so fragte ein Leser, würde in Deutschland noch zum Frisör gehen, wenn Frisörinnen 18 Euro pro Stunde kassieren würden? Die Frage ist berechtigt. Aber man kann sie auch anders stellen: Wie viel Auto, Restaurantbesuche oder Frisör kann man sich heute mit Hartz IV oder mit einem entsprechenden Niedriglohn noch leisten? Die Antwort kann man in den entsprechenden Verordnungen nachlesen: Für Verkehr sind monatlich 19,20 Euro eingerechnet. Das reicht knapp für ein Velo und zweimal wöchentlich ÖV. Für Gaststätten sind 10,33 Euro kalkuliert. Davon gibt es maximal einmal pro Woche Kaffee und Hörnchen bei Tschibo. Der Frisör muss aus dem Restposten von 21,69 Euro für andere Waren und Dienstleistungen finanziert werden - falls da noch etwas bleibt. Niedriglöhne vernichten tendenziell ganze Industrien.

Vermutlich führt ein höherer Mindestlohn vor allem zu einer Umverteilung zwischen denen, die billige Arbeit leisten und denen, die sie sich leisten können. Wahrscheinlich gibt das per Saldo mehr Jobs, da die Niedriglöhner – notgedrungen – fast jeden zusätzlichen Cent ausgeben müssen,  während der Mittelstand das Geld auf die hohe Kante legt – wo es keine Arbeit schafft.

Doch es gibt natürlich Sonderfälle. So würde etwa ein Mindestlohn von 4000 Franken in der Schweizer Gastronomie und Hotellerie dazu führen, dass mehr Schweizer Ferien im Ausland und weniger Ausländer Ferien in der Schweiz machen würden. Doch wäre das wirklich ein Schaden? Oder polemisch gefragt: Soll man sich mit künstlich tiefen Löhnen gegen den Strukturwandel stemmen? Die tiefen Löhne in unseren Hotelbetrieben können sich ohnehin nur Leute leisten, die ihren Lebensmittelpunkt noch im „billigen“ Ausland haben, und die sich noch an das Konsumniveau von Portugal oder Rumänien gewohnt sind.

Und überhaupt: Der Zweck der Marktwirtschaft besteht nicht darin, Jobs zu schaffen. Im Gegenteil: Der Wettbewerb zwingt alle Unternehmen, ihre Dienstleistungen und Produkte mit möglichst wenig Aufwand – sprich Arbeit – herzustellen. Wer – wie dies Deutschland versucht – mit staatlichen Subventionen die Arbeit künstlich verbilligt, erhält zwar vielleicht Jobs, schwächt aber sicher die Marktwirtschaft. Das ist keine gute Idee. Viel intelligenter und marktkonformer wäre es, den unvermeidlichen Rückgang der Arbeit irgendwie intelligent zu organisieren.