Annäherung durch Investitionen und Handel ist billiger als Raketen-Drohungen. Das ist seit Jahren die Strategie Pekings zur Rückgewinnung der «abtrünnigen Provinz» Taiwan. Doch kaufen lassen sich die Inselbewohner nicht.

So bleibt die friedliche, stabile Insel neben Nordkorea das grösste Sicherheitsrisiko Asiens und vielleicht der Welt. Das symbolisches Händeschütteln auf Ministerebene in der ostchinesischen Stadt Nanjing markierte Mitte Februar einen neuen Schritt der Annäherung zwischen der Volksrepublik China und der Republik China. Zwar wird Taiwan als de-facto unabhängiger Staat regiert, doch diplomatisch pflegt Taipei gerade noch mit knapp zwei Dutzend Staaten – dem Vatikan, Staaten in der Südsee und in Mittel-Amerika – Beziehungen. Peking mit seiner «Ein-China-Politik» war viel erfolgreicher. Die Volksrepublik nahm nach dem Besuch von US-Präsident Richard Nixon in Peking 1972 anstelle Taiwans in der UNO und damit im Weltsicherheitsrat Platz. China wird seither weltweit als der einzig rechtmässige Vertreter Chinas anerkannt. Ausgerechnet Nanjing Nun haben sich in Nanjing erstmals seit 1949 Vertreter Pekings und Taipeis auf Ministerebene getroffen.

Ausgerechnet in Nanjing

Denn von dort regierte vor seiner Niederlage im Bürgerkrieg gegen die Kommunisten von Mao Dsedong Generalissimo Tschiang Kai-schek das Riesenreich der Mitte bis 1949 vor seiner Flucht nach Formosa. In Nanjing steht auch das Sun Ya-tsen-Mausoleum, gewidmet dem Gründer der Repbulik China nach dem Sturz der letzten Kaiser-Dynastie 1911. Sun wird sowohl auf der Insel als auch auf dem Festland verehrt. Schon in der Wahl Nanjings also viel Symbolik. Die Positionen sind klar: China will über kurz oder lang die – wie es offiziell heisst – «abtrünnige Provinz» Taiwan zurück. Taiwan hingegen möchte vorerst einmal nur engere wirtschaftliche Bande und – dies vor allem – vermehrt Zulassung von Taiwan in internationalen Organisationen. Etwas, das Peking bislang meist verwehrt. In der Weltgesundheits-Organisation WHO z.B. ist Taiwan erst seit 2009, und auch nur als Beobachter vertreten. An den Olympischen Spielen darf Taiwan hingegen antreten, aber unter dem Namen «China, Taipei». In Sotschi applaudierte so Staats- und Parteichef Xi Jinping und kein offizieller Regierungsvertreter Taiwans den Einmarsch der «China-Taipei»-Delegation.

Taiwanesen für Status Quo

Auch die jetzige, eher China-freundliche Regierung der nationalistischen Kuomintang unter Präsident Ma Ying-jeou weiss, dass die überwiegende Mehrheit der Taiwanesischen Bevölkerung den Status Quo mit Demokratie und mithin einer De-Facto-Unabhängigkeit vorzieht. In Taiwan hört man fast in jedem Gespräch, dass in zwei bis drei Jahrzehnten sicher auch auf dem chinesischen Festland vieles anders sein werde und man dann nochmals über die Wiedervereinigung diskutieren könne.

Auf dem Festland allerdings tönt es ganz anders. Für alle, selbst für die meisten Dissidenten ist klar, dass Taiwan integraler Bestandteil Chinas ist. Punkt. Staats- und Parteipräsident Xi Jinping sagte neulich, dass man das Problem der Wiedervereinigung nicht von Generation zu Generation weiterreichen könne. Auch ein militärisches Eingreifen hat China deshalb nie ausgeschlossen. Noch zielen über 1‘000 Rakten von der Küsten-Provinz Fujian direkt auf Taiwan.

Allerdings setzt seit über zehn Jahren die Volksrepublik weniger auf eine militärische Lösung. Die Einschüchterungsversuche 1996 bei den taiwanesischen Präsidentschaftswahlen waren kontraproduktiv. Trotz Abschuss von Übungsraketen über die Insel hinweg wählten Taiwanesen und Taiwanesinnen furchtlos einen Präsidenten, der auf mehr Eigenständigkeit der Insel setzte. Als Staats- und Parteichef Hu Jintao 2002/03 an die Macht kam, wurde von Konfrontation Abstand genommen und auf Wandel durch Handel gesetzt. Eine wirtschaftliche Einbindung, so die Überlegungen Pekings, ist sehr viel billiger und einfacher als eine militärische Lösung. Mit dem Wahlsieg 2008 der China-freundlichen Nationalisten unter dem neuen Präsidenten Ma Ying-jeou zahlte sich diese Strategie aus. Die wirtschaftlichen Beziehungen wurden eng und enger.

Für China war und ist Taiwan aber nicht verhandelbar. Wie an den Brennpunkten im Süd- und Ostchinesischen Meer wird historisch argumentiert. Taiwan gehört seit dem Ende des 17. Jahrhunderts mit der Qing-Dynastie zu China und wurde in der zweiten Hälfte der 19. Jahrhunderts zur Provinz. Im 20. Jahrhundert bis 1945 war Taiwan lange eine japanische Kolonie. China hat den Anspruch nie aufgegeben. Und 1949 nach dem Sieg der Kommunisten über die nationalistische Kuomintang ist Tschiang Kai-shek nach Taiwan geflohen, die fortan offiziell Republik China hiess.

Abhängigkeit

Doch wirtschaftliche Annäherung führt nicht automatische dazu, dass sich die starren politischen Haltungen mit den Jahren aufweichen. Trotz immer engerer wirtschaftlicher Verflechtung zwischen China und Taiwan ist das bislang nicht geschehen, jedenfalls schon gar nicht so, wie sich das Peking eigentlich vorgestellt hat. Immerhin ist in den letzen fünf bis zehn Jahren vieles geschehen. Es gibt einen umfassenden Rahmenvertrag über wirtschaftliche Kooperation, Es gibt seit vier Jahren Direktflüge, direkten Schiffs- und Postverkehr. Der gegenseitige Tourismus blüht und das Handelsvolumen beträgt mittlerweile rund 200 Milliarden Dollar pro Jahr mit einem erklecklichen Überschuss für Taiwan. 40 Prozent des Taiwanesischen Handels wird mit Festland-China abgewickelt. Es arbeiten weit über eine Million Taiwanesinnen und Taiwanesen in China, und Taiwans Investitionen belaufen sich auf mehrere Hundert Milliarden Dollar. 70 Prozent aller Taiwanesischen Investitionen werden in Festland-China getätigt. Die Kehrseite dieser Entwicklung: Taiwan ist unterdessen wirtschaftlich mehr abhängig von China als umgekehrt.

Politisch jedoch ist eine Annäherung noch in weiter Ferne. Fortschritte sind schwierig, weil einerseits Peking auf Wiedervereinigung drängt, Taipei aber andrerseits auf seine Bürger Rücksicht nehmen muss, die laut Umfragen zu 80 Prozent den Status Quo befürworten. Das heisst für Taiwans Bürger: politische Eigenständigkeit und demokratische Freiheiten bei gleichzeitig blühenden Geschäften mit China. Was Peking neben militärischen Drohgebärden immer in der Hinterhand behält, ist eine durchaus friedliche Lösung nach dem Modell von Hong Kong und Macao: «Ein Land, zwei Systeme» für fünfzig Jahre nach der Wiedervereinigung. Das ist auch der Grund, warum man in Taiwan genau hinschaut, was in Hong Kong passiert. Folgerichtig hütet sich Peking davor, die Freiheitsrechte von Hong Kong auch nur zu ritzen.

Das von den Medien vielleicht etwas vorschnell als «historisch» apostrophierte Treffen in Nanjing hat immerhin grossen symbolischen Wert. Die Substanz liegt wohl darin, dass gegenseitiges Misstrauen ein klein wenig abgebaut worden ist. Die Regierungszeitung «China Daily» umschreibt es so: «Es wäre naiv, von einem einzigen Treffen zuviel zu erwarten. Gegenseitiges politisches Vertrauen aufzubauen fordert von beiden Seiten enorme Anstrengungen».

Konkret wurde erreicht, dass «so schnell als möglich» Verbindungs-Büros eröffnet werden, inoffizielle Botschaften sozusagen. Doch zu dem von Taiwan erhoffte Treffen zwischen Staats- und Parteichef Xi Jinping und Taiwans Präsidenten Ma Ying-jeou am Gipfeltreffen der Asiatisch-Pazifischen Wirtschafts-Zusammenarbeit APEC im Herbst in Peking wird es nicht kommen. Peking erteilte eine klare Absage. Ein Treffen wäre schon fast einer Anerkennung Taiwans als unabhängiger Staat gleichgekommen. Ein Tabu für Peking. Immerhin, Taiwans Minister Wang sagte nach dem Treffen in Nanjing, dass «ein neues Kapitel» in den Beziehungen über die Taiwan-Strasse eingeleitet worden sei und fügte hinzu: «Wahrlich ein historischer Tag». Pekings Vertreter Zhang Zhi-jun gab sich weniger euphorisch. «Nachbarn», meinte er, «könnten gute Freunde werden». Dazu aber bräuchte es von beiden seiten viel Einbildungskraft, um in der Zukunft Durchbrüche zu erzielen.

Gewiss, Taiwan ist eine Insel der Ruhe, des Friedens und der Stabilität zwischen den Brennpunkten Senkaku-Diaoyu-Inseln im Ost- und den Spratly-Inseln im Süd-Chinesischen Meer. Doch man sollte sich nicht täuschen. In zwei Jahren finden die nächsten Präsidentschaftswahlen auf Taiwan statt. Da der nationalistische und China-freundlich Präsident Ma unpopulär ist und nach zwei Amtszeiten nicht wieder antreten darf, kommt vielleicht wieder die oppositionelle Demokratische Fortschritts-Partei (DPP) an die Macht. Wie die Amtszeit des ehemaligen DPP-Präsidenten Chen Shui-bian zeigt, betreibt diese Partei eine Politik bis an die Grenze der Unabhängigkeit. Das ist Gift für die Beziehungen zu Peking und darüberhinaus sehr gefährlich. Die USA werden wie bisher auch in Zukunft vertraglich gebunden sein, bei einem Angriff auf Taiwan einzugreifen. Die Volksrepublik China wiederum hat nie den geringsten Zweifel darüber offen gelassen, dass sie bei einer Unabhängigkeiserklärung Taiwans oder der akuten Gefahr einer Abspaltung militärisch eingreifen werde. Taiwan bleibt deshalb auf absehbare Zeit ein hohes Sicherheitsrisiko in Ostasien.

Handel durch Wandel also? Ja, gewiss doch. Versehen jedoch mit einem grossen ABER.