Als ich Ende der sechziger Jahren in Basel Wirtschaft studierte, gab es ein paar Gewissheiten. Etwa die, dass sich so etwas wie die Weltwirtschaftskrise von 1929 nie mehr wiederholen würde. Schliesslich hatte man aus der Geschichte gelernt: Franklin D. Roosevelt und Meynard Keynes hatten gezeigt, wie man Krisen überwindet, Sparkanzler Heinrich Brüning hatte vorgeführt, wie man ein Land kaputt spart. Sogar deutsche Ökonomie-Professoren, wie Gottlieb Bombach in Basel, waren damals Keynesianer.

Auch aus dem Goldstandard und dessen unrühmlichen Ende hatte man gelernt: Es brauchte eine internationale Währungsordnung, um einen Abwertungswettlauf zu verhindern, aber man musste auch rechtzeitige Abwertungen zulassen. Und weil man all das im Griff hatte, gab es auch eine dritte Gewissheit, nämlich, dass es über kleine Konjunkturschwankungen hinweg immer nur aufwärts gehen würde. Der technologische Fortschritt war die einzige Grenze.

Die Vergangenheit hat uns eingeholt

Jetzt hat uns die Vergangenheit wieder eingeholt: Ausser in den „Nordländern“ Deutschland, Belgien und - knapp – in Frankreich und Österreich hat das BIP in keinen der Mitgliedsländer des neuen Goldstandards (sprich Euro-Verbund) den Stand von vor 2008 wieder erreicht. Griechenland hat gar einen Einbruch erlebt, der den der Weltwirtschaftskrise in den USA längst weit übertrifft. Auch Spanien, Italien und Portugal stecken in einer Dauerkrise, die man noch vor kurzem nicht für möglich gehalten hätte.

Was ist passiert? Welche Veränderungen haben die damaligen Gewissheiten platzen lassen? Ich sehe vor allem zwei: Die Verteilungsfrage und die Globalisierung. Nach dem zweiten Weltkrieg ist die Verteilung der Einkommen gute drei Jahrzehnte lang stetig gleichmässiger geworden. Die Lohneinkommen steigen auf breiter Front in etwa mit der Produktivität – im Einklang mit der Theorie des vollkommenen Marktes. Das hatte man also im Griff. Verteilungsfragen waren für Ökonomen immer nur ein Thema am Rande.

Das hat sich jetzt gerächt. Nehmen wir z.B. die „innere Abwertung“, die in einer Währungsunion die Abwertung der (nicht mehr vorhandenen) eigenen Währung ersetzt. In einer Theorie, welche Verteilungsfragen ignoriert, gehen dabei mit den durch die „Strukturreformen“ gedrückten Löhnen und Sozialleistungen automatisch auch die Preise zurück. Liegt die Marktmacht jedoch bei den Unternehmern, wie etwa in Griechenland, so sieht die Sache ganz anders aus. Dort sind die Löhne ab 2009 nominal um 15% gesunken, die Preise aber noch um rund 8% gestiegen. Die Differenz floss in die Kasse der Arbeitgeber. Da diese mangels Nachfrage auch kaum noch investiert haben, konnten sie bis 2014 rund 100 Milliarden Euro ins Ausland schaffen.

Ungleichheit steigt

Damit hatten die Strukturreformen zumindest drei Folgen, die gemäss Theorie nicht zu erwarten waren, und die auch heute kaum beachtet werden: Erstens brach die Binnennachfrage um rund einen Drittel ein. Zwar nahmen die Exporte seit 2009 um rund 5 BIP-Prozente zu, doch im Vergleich zum Einbruch der Binnennachfrage ist das ein Klacks. Bei einer echten Abwertung, hätte nur die Nachfrage nach Importgütern gelitten, der Binnenmarkt hätte sogar profitiert. Zweitens: Dank den Strukturreformen ist Griechenland heute das ungleichste Land der EU. Nirgendswo sonst, sind die Reichen so mächtig. Was natürlich auch die wirklich sinnvollen Reformen etwa bei der Besteuerung der hohen Einkommen erschwert. Drittens haben die ausländischen Gläubiger, in deren Namen die Reformen letztlich durchgesetzt wurden, ab 2010 noch sehr viel mehr zusätzliches Geld verloren als aufgrund der sinkenden Handelsdefizite zu erwarten gewesen wäre.

Die dritte entscheidende Veränderung betrifft die Globalisierung - insbesondere der Kapitalmärkte und des Arbeitsmarktes. Heute ist es zwar noch immer nicht ganz trivial, eine Produktionsstätte von A nach B zu verlagern, aber man kann zumindest damit drohen. Diese ständige Gefahr hat zu einer erschreckenden Verengung des wirtschaftspolitischen Denkens geführt. Danach kommt wirtschaftliches Wachstum immer nur davon, dass DAS KAPITAL dazu gebracht werden kann, am eigenen Standort zu investieren, um irgendeine globale Nachfrage zu befriedigen. Die Kurzformel dafür heisst „Wettbewerbsfähigkeit“ – ein Schlagwort, inzwischen in jeder wirtschaftspolitischen Rede Angela Merkels mehrfach vorkommt.

Der Preis für die Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit ist die Einschränkung der eigenen Nachfrage. Griechenland ist dafür zwar das krasseste, aber keineswegs das einzige Beispiel. Sogar in dem für seine Reformerfolge gefeierten Irland lag der einheimische Verbrauch 2014 noch immer rund 14% unter dem Niveau von 2007. Unter normalen Umständen bzw., bei einer vernünftigen Wirtschaftspolitik müsste er fast 20 Prozent darüber liegen. Der Euro-Raum insgesamt dümpelt die Binnennachfrage noch immer gut  3% unter dem Niveau von 2008. Das einzig positive Beispiel ist Deutschland, dessen Nachfrage seit 2009 um gut 7 Prozent gestiegen ist. Der entscheidende Grund dafür dürfte in den seit 2009 wieder deutlich (um rund 5,5%) steigenden Löhnen liegen.

Die weiteren Aussichten sind trübe. Die steigenden Löhne in Deutschland sind mehr das zufällige Ergebnis sinkender Inflationsrate als Vorbote einer keynesianischen Wende zu einer nachfrageorientierten Politik. Das Beispiel Griechenlands hat offenbar niemanden aufgeschreckt. Es gibt noch nicht mal Ansätze einer Diskussion um Sinn und Unsinn einer Politik der „Wettbewerbsfähigkeit“. Auch in Frankreich und Italien wird der Arbeitsmarkt weiter liberalisiert. Und obwohl sind keine Bemühungen um eine neue Weltwährungsordnung zu erkennen. Das neoliberale Ding wird jetzt durchgezogen.

Irgendwann mal wird man sich vielleicht doch wieder an die Lehren aus 1929 erinnern.