Der 1. Mai ist in China ein mehre Tage dauernder, offizieller Feiertag. Schliesslich geht es um Arbeiterinnen und Arbeiter. Das chinesische Proletariat freilich hat sich im digitalen Zeitalter verändert. Nicht nur zur Freude der Parteihierarchie.

Das Arbeiterparadies China ist auch nicht mehr das, was es unter dem Grossen Vorsitzenden Mao Dsedong einmal war. Damals zur Zeit der Kommunen und Kollektive waren alle gleich, wiewohl Mao und seine Getreuen wohl etwas gleicher waren. Es gab keine Privatwirtschaft. Abgerechnet wurde nach Arbeitspunkten.  Arbeitslosigkeit existierte nicht. Ebensowenig Stress. Am Arbeitsplatz konnte noch in Ruhe Grüntee getrunken werden und hin und wieder reichte es auch für eine Partie Mahjong, chinesischen Schachs oder ein Kartenspiel. Die Produktivität war, wen wunderts, nicht besonders hoch. Einerlei. Es war eben ein Arbeiterparadies mit einer lebenslangen Arbeitsplatz-Garantie in den Staatsbetrieben.

Mit dem Beginn der Wirtschaftsreform vor 35 Jahren begann sich all das langsam zu ändern. Die Vision des grossen Revolutionärs und Reformers Deng Xiaoping war ebenso einfach wie einleuchtend: der Sozialismus könne nicht darin bestehen, dass alle gleich arm sind. Bauern, Arbeiter und Angestellte mussten fortan ihre Arbeitskraft immer mehr nach Marktkräften, wenn auch mit „sozialistischen, chinesischen Besonderheiten“, anbieten. „Reich sein ist glorreich“ formulierte Deng griffig, ein Diktum, das – da „konterrevolutionär“ – zu Maos Zeiten jemanden um Kopf und Kragen gebracht hätte. Die Produktivität stieg, der Wohlstand nahm zu, ebenso aber der Unterschied zwischen Arm und Reich sowie Stadt und Land. Dennoch, es bildete sich ein noch immer wachsender Mittelstand, heute je nach Definition zwischen 200 und 300 Millionen stark. Die im Weltrekordtempo wachsende Wirtschaft absorbierte ohne Schwierigkeiten die mit jährlich zwischen zehn und zwanzig Millionen neu auf den Arbeitsmarkt drängenden Arbeitskräfte. Viele Bauern suchten Arbeit und Lohn in den boomenden Grossstädten und reichen Küstenregionen. Ein Heer von sozial- und wirtschaftlich benachteiligten Wanderarbeitern entstand, heute über 270 Millionen.

Selbstredend mussten die Rechte der Arbeiter selbst im neuen chinesischen Arbeiterparadies verteidigt werden. Dafür wurde 1978, kurz nach dem Ende der Kulturrevolution, der All-Chinesische Gewerkschaftsbund neu gegründet. Die staatliche Gewerkschaft ist ein Ableger der allmächtigen Kommunistischen Partei und vertritt meist Staats- und Arbeitgeberinteressen. Das Streikrecht wurde 1982 aus dem Gewerkschaftsgesetz gestrichen mit der faktenwidrigen, damals aber politisch korrekten Argumentation, dass das politische System die „Probleme zwischen dem Proletariat und den Unternehmern beseitigt“ habe.

Veränderungen im digitalen Zeitalter

Doch inzwischen haben sich im Übergang vom analogen zum digitalen Zeitalter die Verhältnisse grundlegend verändert. Eine neue Generation von besser ausgebildeten Wanderarbeitern ist herangewachsen, die sich nicht mehr alles bieten lässt.

Der Zorn des chinesischen Proletariats drückt sich seit einem Jahrzehnt mehr und mehr in unzähligen, meist kleinen und lokal begrenzten Arbeitskämpfen aus, vor allem in den reichen Küstenregionen, zumal in der als „Werkstatt der Welt“ notorischen Südprovinz Guangdong (Kanton). Beraten von rechtskundigen Arbeiteraktivisten und geduldet von der Zentralregierung haben sich so in vielen kleineren Streiks die Werktätigen bessere Bezahlung und Arbeitsbedingungen erstritten, meist an der Staatsgewerkschaft vorbei. Dieses Vorgehen war nötig, weil die staatlichen Gewerkschaftsfunktionäre und die lokalen Parteibonzen mit den in- und ausländischen Unternehmern sehr oft gemeinsame Sache machten.

Wenig gelangt davon an die Öffentlichkeit. In China werden die Medien-Redaktionen mit detaillierten Anweisungen versorgt, wie Arbeitskonflikte abzuhandeln sind: Verschweigen, nur klein im Innern der Zeitung aufmachen, nicht kommentieren oder kommentieren nach einem präzis vorgegebenen Raster. Dieses Mini-Managment dient dazu, „soziale Stabilität“ zu erhalten.

Nur die grossen Streiks finden Beachtung

Im Ausland werden nur die ganz grossen Streiks wahrgenommen, und dann oft ganz an den Tatsachen vorbei verallgemeinert. Für einen im Westen zurecht angeprangerten Skandal sorgte der Taiwanesische Elektronik-Riese Foxconn (Produktion von iPhone, BlackBerrys oder Kindle etwa), als es zu Selbstmorden wegen desolater Arbeitsbedingungen kam. Der grösste Elektronik-Produktions-Konzern der Welt mit 400'000 Angestellten, gelobte Besserung. Eben erst für Schlagzeilen gesorgt hat der Taiwanesische Textil- und Schuhhersteller YueYuen, auch das ein Riesenunternehmen. Es produziert unter anderem all die berühmten Sneakers und Turnschuhe, möglichst billig natürlich, damit davon sowohl weltweit Konsumenten als auch die bekannten Designer-Marken profitieren.  Zwei Wochen lang streikten mehrere Tausend Arbeiterinnen und Arbeiter von YueYuen in der Boom-Stadt Dongguan und forderten Nachzahlung von unterbliebenen Sozialversicherungsbeiträgen. Der Streik dehnte sich auf andere YueYuen-Standorte aus. Schliesslich wurde der Konflikt auf Anweisung von ganz Oben aus Peking mit einem Kompromiss beigelegt. „Soziale Harmonie“ hat Vorrang.

Unabhängige Gewerkschaften auf nationaler Ebene hingegen sind nach wie vor tabu. Die Partei will wie in allen andern die Macht tangierenden Bereichen auch beim Kampf der Proletariats die Deutungshoheit monopolisieren. Der marxistische Slogan „Proletarier aller Provinzen vereingit euch!“ wird nicht erschallen. Dennoch ist mit der  Wirtschaftsreform, wohl zum Erstaunen der roten Mandarine und zur Freude von Friedrich Engels und Karl Marx, eine selbstbewusste Arbeiterklasse entstanden. Die Zeit der willigen und billigen Arbeitskräfte gehört auch im Paradies der Werktätigen endgültig der Vergangenheit an. Der Kampf um mehr Rechte freilich geht weiter. Mit oder gegen die Partei.