"Wir sind in einer dramatischen Lage", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel in einer Regierungserklärung im Bundestag am Donnerstag. Die von Bund und Ländern für November beschlossenen Einschränkungen wie die Schließung von Gastronomie und Freizeiteinrichtungen verteidigte Merkel als "geeignet, erforderlich und verhältnismäßig". Finanzminister Olaf Scholz (SPD) und Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU) stellten die ersten Grundzüge weiterer Hilfen für Firmen vor. Bisherige Überbrückungshilfen für Unternehmen sollen 2021 verlängert werden.

Im Bundestag stellten sich die Regierungsfraktionen und auch die Grünen hinter die Bund-Länder-Beschlüsse vom Mittwoch, von anderen Oppositionsparteien kam massive Kritik. FDP-Chef Christian Lindner sprach von einem "aktionistischen Krisenmanagement", AfD-Co-Fraktionschef Alexander Gauland von dem Regieren eines "Kriegskabinetts". In München kündigte Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU) an, dass die beschlossenen Kontaktbeschränkungen auf Treffen von maximal zwei Familien mit höchstens zehn Personen nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern auch in Privatwohnungen gelten sollen.

Merkel begründete die neuen Maßnahmen mit den immer höheren Zahlen an Positiv-Tests sowie der stark steigenden Zahl an Intensivpatienten. Zu warten, bis alle Intensivbetten belegt seien, sei falsch und gefährlich, wies sie etwa Kritik der Kassenärztlichen Bundesvereinigung zurück. Das Robert-Koch-Institut (RKI) hatte am Morgen erstmals mehr als 16.000 Positiv-Tests und weitere 89 Corona-Todesfälle innerhalb eines Tages gemeldet.

Merkel: Verstehe Verzweiflung der Betroffenen

Sie könne die Frustration, "ja Verzweiflung" der Betroffenen verstehen, sagte Merkel. Aber oberstes Ziel sei nun, die Kontakte der Menschen um mindestens 75 Prozent zu reduzieren, um die Ausbreitung des Virus einzudämmen. Dies sei nötig, weil die Lage sonst außer Kontrolle geraten könne. Die Pandemie könne nur mit einem Schulterschluss von Bund und Ländern besiegt werden, sagte die rheinland-pfälzische Ministerpräsidentin Malu Dreyer (SPD) in der Debatte. Grünen-Co-Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt sagte, dass ihre Partei den Maßnahmen "im Kern" zustimme.

Die Pandemie sei eine historische Herausforderung, die die Gesellschaft in Deutschland und anderen Ländern vor eine "politische, wirtschaftliche, medizinische, soziale, psychische" Bewährungsprobe stelle, mahnte die Kanzlerin. "Wir werden ihr nur mit Zusammenhalt und mit einem transparenten Austausch miteinander begegnen können." "Lüge und Desinformation, Verschwörung und Hass beschädigen (...) auch den Kampf gegen das Virus", sagte Merkel in ihrer immer wieder von Zwischenrufen unterbrochenen Erklärung.

Hauptkritikpunkt der Opposition war zum einen, dass Maßnahmen wie die Schließung von Gastronomie-Betrieben überzogen seien. "Die Krisenpolitik der Regierung ist nicht alternativlos", sagte Lindner. Auch der Präsident der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Ingo Kramer, kritisierte, bei der Schließung von Gastronomie- und Beherbergungsbetrieben sei "Aktionismus vor sachliche Begründung gestellt worden".

 

"AUCH UM DEN PREIS, DASS MENSCHEN STERBEN"

Zum anderen kritisierte die Opposition, dass Bundesregierung und die 16 Landesregierungen die Entscheidungen ohne die Parlamente getroffen hätten. "Eine Corona-Diktatur auf Widerruf ist keine Lösung", sagte AfD-Fraktionschef Gauland. "Wir müssen abwägen, auch um den Preis, dass Menschen sterben." Lindner sagte, das Vorgehen drohe die "parlamentarische Demokratie zu deformieren". Dies wies Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus scharf zurück. Es habe 70 Debatten im Parlament über die Corona-Maßnahmen gegeben. Der Bundestag habe zudem immer die Möglichkeit, Gesetze zu beschließen. Die 16 Landesregierungen hatten bereits erklärt, die Beschlüsse in den Landtagen diskutieren zu lassen.

In den kommenden vier Wochen entscheide sich, ob Deutschland seinen wirtschaftlichen Wohlstand halten könne, sagte Brinkhaus. Wie Merkel verwies er darauf, dass Europa auch in einem Systemwettbewerb mit autoritären Staaten stehe, die die Pandemie mit in Demokratien unerwünschten Mitteln offenbar erfolgreicher bekämpften. Nach Einschätzung von Wirtschaftsminister Altmaier wird Deutschland erst im Jahr 2022 wieder die Wirtschaftskraft auf dem Niveau von vor der Pandemie erreicht haben. Finanzminister Scholz kündigte an, "Überbrückungshilfen III" für spezielle Branchen "demnächst" weiterzuentwickeln. "Wir haben länger mit der Krise zu kämpfen", sagte auch Arbeitsminister Hubertus Heil.

Die Kanzlerin versuchte am Ende ihrer Rede, bei allen Warnungen Hoffnung zu vermitteln. Die Hygienekonzepte vieler Einrichtungen seien nicht sinnlos, auch wenn nun vorübergehend härtere Maßnahmen nötig seien. Die Menschheit habe immer wieder bewiesen, dass sie auch große Herausforderungen bewältigen könne. Deutschland stehe vor einem harten Winter. "Vier lange schwere Monate, aber er wird enden", sagte die Kanzlerin. (Mitarbeit: Holger Hansen, Jörn Poltz; redigiert von Georg Merziger Bei Rückfragen wenden Sie sich bitte an die Redaktionsleitung unter den Telefonnummern 030 2201-33702 (für Unternehmen und Märkte) oder 030 2201-33711 (für Politik und Konjunktur)

(Reuters)