Die Machtübernahme der Taliban stürzt alle, die mit Entwicklungshilfe in dem zentralasiatischen Land beschäftigt waren, ins Dilemma: Sollen auch sie ihre Mitarbeiter evakuieren - oder sollen sie im Interesse der 38 Millionen Afghanen versuchen, auch unter einer fundamental-islamistischen Regierung weiterzuarbeiten?

"Für ausländische Hilfsorganisationen stellt die Situation ein Paradoxon dar", sagte etwa Robert Crews, Geschichtsprofessor an der Stanford University und Autor des 2015 erschienenen Buches "Afghan Modern: The History of a Global Nation".

"Wenn man als Entwicklungshelfer in einem staatlichen Krankenhaus arbeitet, dient man einem Regime, dessen Legitimität auf dem Spiel steht", sagte Crews. "Aber wenn alle nach Hause gehen, wird der Staat dann zusammenbrechen?"

Auch die Bundesregierung und deutsche Hilfsorganisationen debattieren diese Frage - ebenso wie Organisationen wie Caritas und Misereor. Wenn man in einem solchen Land arbeiten und helfen wolle, müsse man auch mit Leuten reden, mit denen man nicht unbedingt reden wolle, sagt der Chef von Caritas International, Stefan Recker, im Deutschlandfunk.

Misereor-Hauptgeschäftsführer Pirmin Spiegel hatte zuvor bereits betont, dass sich die Lage in dem Land fast täglich verschlechtere. Innerhalb Afghanistans seien rund vier Millionen Menschen auf der Flucht. Eine Aussetzung der Entwicklungshilfe wäre eine "doppelte Bestrafung" der Bevölkerung, sagte Spiegel.

Doppelter Weg

Die UN-Behörden wie die Weltgesundheitsorganisation (WHO) und das UN-Welternährungsprogramm (WFP) haben deshalb entschieden, in Afghanistan weiterzuarbeiten. Die internationale Gemeinschaft müsse 200 Millionen Dollar bereitstellen, damit Nahrungsmittel vor dem Winter auch in entferntere Regionen gebracht werden können, forderte eine WFP-Mitarbeiterin.

Die Bundesregierung geht einen doppelten Weg. Entwicklungsminister Gerd Müller verkündete einerseits das Aussetzen der offiziellen Entwicklungshilfe, denn die Sicherheit der Mitarbeiter und die Achtung der Menschenrechte seien nicht gewährleistet.

Andererseits stellt die Bundesregierung jedoch 100 Millionen Euro an humanitärer Hilfe bereit. Sie betont aber, dass dieses Geld nicht über Taliban-Strukturen ausgegeben werde, sondern nur über internationale Hilfsorganisationen.

"Dazu sprechen wir intensiv mit NGOs und den UN-Hilfswerken wie Unicef und dem Welternährungsprogramm, wie diese eine grundlegende humanitäre Unterstützung in der Region aufrechterhalten können, etwa bei der Ernährungssicherung und Gesundheitsversorgung", sagte ein Sprecher des Entwicklungsministeriums.

Die EU geht einen ähnlichen Weg und will nach Angaben von Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen 200 Millionen Euro an humanitärer Hilfe bereitstellen.

Deutschland plant für Gefährungsfall

Daran schliessen sich aber praktische Fragen an, etwa was den Verbleib von Ortskräften angeht. Die deutsche Bundesregierung entschied am Wochenende, dass nun auch Ortskräfte, die nach 2013 ein Beschäftigungsverhältnis mit einer deutschen Organisation hatten, im Gefährdungsfall ausgeflogen werden könnten.

Gleichzeitig bietet die Bundesregierung Ortskräften, die aus persönlichen Gründen bleiben wollen, Geld an. Sollten sie später evakuiert werden wollen, sei dies möglich, betonte ein Ministeriumssprecher. "Wir brauchen sehr klare Garantien für den sicheren Zugang zu betroffenen Gemeinden und sichere Passage für die Helfer", unterstrich ein EU-Vertreter.

Doch es gilt als unklar, wie sehr man auf Zusagen der Taliban vertrauen kann. Diese sagten zwar in der vergangenen Woche zu, friedliche Beziehungen zu anderen Ländern, Frauenrechte und unabhängige Medien zu achten.

Aber einige ehemalige Diplomaten und manche Experten erklärten, die militante islamistische Bewegung sei zwar medien- und internetkompetenter als die Taliban der 1990er Jahre, aber genauso brutal. Ryan Crocker, der von 2011 bis 2012 als Botschafter in Afghanistan tätig war und den Abzug des US-Militärs aus dem Land kritisiert, warnt, dass man den Taliban kein Vertrauen schenken dürfe.

Wird der Geldhahn abgedreht?

Es gibt allerdings Druckmittel: Der afghanische Staatshaushalt wird zu 70 bis 80 Prozent von internationalen Gebern finanziert, darunter die US-Behörde für internationale Entwicklung (USAID), sagte Michael McKinley, der 2015 und 2016 als Botschafter in Afghanistan tätig war.

Ohne diese Hilfe stünde das Land vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch. "Die Taliban werden beträchtliche Finanzmittel von aussen benötigen, es sei denn, sie ziehen sich auf das zurück, was sie von 1996 bis 2001 getan haben, nämlich die Regierung auf ein minimalistisches Niveau zu führen", sagte McKinley, der jetzt bei der Beratungsfirma Cohen Group arbeitet. "Vom Rauschgifthandel zu leben, war für sie kein Weg, um an der Macht zu bleiben."

Insgesamt hatten die USA seit 2002 Mittel in Höhe von 145 Milliarden Dollar für den Wiederaufbau Afghanistans bereitgestellt, zeigt ein Bericht des Special Inspector General for Afghan Reconstruction vom 30. Juli.

Die Weltbank steuert mehr als zwei Milliarden Dollar zur Finanzierung von 27 aktiven Projekten in Afghanistan bei, die vom Gartenbau bis zu automatischen Zahlungssystemen reichen. Die Asiatische Entwicklungsbank ist ebenfalls in Afghanistan - und will dort präsent bleiben.

Daniel Runde, Entwicklungsexperte am Center for Strategic and International Studies in Washington, warnt vor dem Abbruch aller Kontakte. "Die Versuchung wird gross sein, einfach den Stecker zu ziehen und wegzugehen. Aber das haben wir 1989 getan, und zwölf Jahre später geschah der 11. September", sagte er. 

(Reuters)